Geschrieben am 19.11.2022

Lohndumping gilt als eines der Ziele, die Unternehmen mit Wet-leasing verfolgen.
Is our sign a promise?
Seit dem Bestehen der SWISS gilt Wet-leasing als fester Bestandteil im Portfolio der Schweizer Premium Airline. Das bringt ihr grösstmögliche Flexibilität und Stabilität im Netzwerk. Die wachsende Wet-leasing-Produktion benachteiligt allerdings Angestellte der Muttergesellschaft und hinterlässt einen faden Beigeschmack.
Text: Kevin Fuchs
Es ist an einem dieser verregneten Herbstnachmittage meiner ATPL-Theorie gewesen, als ich erstmals mit dem Begriff «wet leasing» konfrontiert wurde. Das liegt rund zwölf Jahre zurück. Damals fragte ich mich, ob das eher theoretische klingende Konzept, das unserer Pilotenklasse dort vorgestellt wurde, auch von praktischer Bedeutung in der Luftfahrtbranche ist. Die vergangenen Jahre haben mir gezeigt: Ja. Wet-leasing ist nicht nur sinnvoll, sondern gehört schon lange Zeit zur Strategie und wurde gezielt zum Geschäftsmodell namhafter Airlines. Das Wet-leasing, im deutschen Fachjargon auch als Feuchtmiete bekannt, ist eine spezielle Leasing-Variante, bei der nicht nur Flugzeuge, sondern auch Personal, Wartung und Versicherung angemietet werden. Obwohl der Begriff oftmals negativ behaftet ist, bringt er durchaus auch Positives mit sich – abhängig von der jeweiligen Perspektive, aus der man ihn betrachtet. Dabei unterliegt er spezifischen Vorschriften.
Deutschland restriktiver
Das deutsche Luftfahrtbundesamt (LBA) definiert diese in der EG-Verordnung 1008/2008 Artikel 13: Zusätzlich zum Nachweis, dass alle Sicherheitsanforderungen erfüllt sind, muss das Luftfahrtunternehmen entweder bestätigen können, dass für einen Zeitraum von bis zu sieben Monaten ein «aussergewöhnlicher Bedarf» besteht oder das Anmieten notwendig ist, um einen «saisonalen Kapazitätsbedarf» zu decken, dem die eigenen Luftfahrtzeuge nicht genügen. Eine dritte Möglichkeit zum Wet-leasing bietet die Verordnung, um «betrieblichen Schwierigkeiten zu bewältigen».
Das BAZL hingegen unterscheidet nur zwei Möglichkeiten zur Feuchtmiete. Beide basieren auf dem Faktor Zeit. Im ORO.AOC.110(c) definiert das Bundesamt das sogenannte «limited wet leasing» beziehungsweise «unlimited wet leasing». Während Ersteres eine Vereinbarung für eine spezifische Anzahl an Flugnummern für einen Zeitraum ist, bietet die unbegrenzte Feuchtmiete die Möglichkeit, Leasingpartner auf einer White List zusammenzufassen, die vom BAZL überwacht und genehmigt wird. Sinn und Zweck der unlimitierten Verträge, die auch die SWISS so abschliesst, ist es, Flüge entweder regelmässig und geplant durch einen «Community Operator» durchführen zu lassen oder um AOG-Events (Aircraft On Ground: Flugzeug [aus technischen Gründen] am Boden und nicht flugfähig) abzudecken. Die Vorgehensweise zur Überprüfung der Anforderungen und Eigenschaften der anzumietenden Fluggesellschaften ist dabei klar definiert.
Wet-leasing als Geschäftsmodell
Auf die Spitze bei der Anwendung von Wet-leasing trieb (und treibt) es wohl Ryanair, die seit ihrem Start am Standort Wien Teile der ehemaligen Laudamotion in grossem Mass in ihrem Auftrag einsetzt. Der irische Low-cost Carrier unterstützte die angeschlagene österreichische Fluggesellschaft seit 2018. Seitdem gab es anfängliche Investitions- und Expansionspläne, die eine Flottenvergrösserung und verbesserte Arbeitsbedingungen (Sozialleistungen und Lohn) mit sich gebracht hätten. Plötzlich änderte man den Kurs grundlegend und gründete Ende 2020 die Lauda Europe Ltd. mit Sitz in Malta – eine Tochtergesellschaft der Ryanair. Das gesamte Vermögen der ehemaligen Laudamotion, inklusive der Flotte bestehend aus 29 Airbus 320, wurde auf das neue Unternehmen übertragen. Ähnlich der Malta Air ist die neue Ryanair-Tochter heute nur noch ein Schatten der «alten» Lauda. Ryanair-CEO Michael O’Learys wilde Ideen führen dazu, dass ich heute als Passagier mit meinem auf der Webseite der Ryanair gekauften Ticket in einer A320 der Lauda Europe Ltd. sitzen könnte – ein Flugzeug, das in Malta registriert ist und mit Lauda-Livery ab Wien oder jedem anderen Flughafen des Ryanair-Streckennetzes eingesetzt wird. Natürlich ein rein hypothetisches Szenario. Man wagt zu bezweifeln, dass die Flugzeuge je länger als für einen kurzen Turnaround auf ihrem neuen Heimatflughafen Malta zu Gast gewesen sind. Ob das Rufzeichen «Beaufort» der Lauda Europe je in einem Funkspruch verwendet wurde, sei ebenfalls dahingestellt. Für Interessierte spricht die Webseite der Lauda Europe Bände. Über die Tarifverträge des Cockpit-Personals soll an dieser Stelle gar nicht erst spekuliert werden. Diese Art von Geschäftsmodell ist also klar abzulehnen. Zeit für einen Blick in die Schweiz.
Helvetic Airways
Die SWISS setzt seit 2006 Helvetic Airways als hauptsächlichen Wet-leasing-Partner ein. Die im Jahr 2003 gegründete Schweizer Airline mit Sitz in Kloten ist heute mit einer modernen Flotte bestehend aus 15 Flugzeugen der Embraer-Familie im europäischen Streckennetz unterwegs. Dabei kommen neben den älteren Typen des ERJ-190 aus dem ehemaligen Bestand der Niki seit 2019 auch acht der neuen E190-E2- sowie vier E195-E2-Jets zum Einsatz. Die mit zwei Pratt&Whitney-PW1919G2-Triebwerken ausgestatteten Flugzeuge sind hocheffizient und fliegen mit ihrer Reichweite von fast 3000 nautischen Meilen nur knapp weniger weit als eine A220. Auch im Treibstoffverbrauch spielt die neueste Errungenschaft der brasilianischen Empresa Brasileira de Aeronautica ganz vorne mit: Der Hersteller spricht von elf Prozent Reduktion im Vergleich zum Vorgängermodell, Helvetic spricht in Berufung auf Erfahrungswerte gar von bis zu zwanzig Prozent. Die Lärmemissionen sollen ebenfalls deutlich unter der einer A220 (11 Prozent leiser) liegen, wobei für den Anwohner im Umfeld des Flughafens Zürich das Geräusch einer E190-E2 wohl nicht von dem einer A220 zu unterscheiden ist. Zusammengefasst sind die Embraer-Jets die ideale Flotte für den Einsatz im Kurz- und Mittelstreckenverkehr bei einer Bestuhlung von 110 (E190-E2) respektive 134 (E195-E2) Sitzplätzen.
Geheimer Wet-leasing-Vertrag
Doch zurück zum Thema: Die SWISS verfolgt seit über 15 Jahren eine strategische Partnerschaft mit der 2L (IATA-Kürzel der Helvetic). Im Herbst 2018 bezeichnet der damalige SWISS-CEO Thomas Klühr den Ausbau der Helvetic als erfreulich. In diesem Kontext wurde verkündet, dass ab 2019 bis zu acht Flugzeuge der Helvetic mit Wet-leasing für die SWISS im Einsatz stehen. Ein beliebiger Beispieltag aus dem September 2022 zeigt, dass die SWISS mittlerweile weit mehr als diese Anzahl einsetzt. Am 18. September 2022 kamen alle bis auf die in Bern stationierte HB-AZE für die SWISS zum Einsatz. Von 68 geflogenen Legs der Helvetic Airways wurden an diesem Tag 62 im Auftrag der SWISS ausgeführt (Quelle: Flightradar24). Das ergibt einen Durchschnitt von 4,7 Legs pro Flugzeug für die SWISS. Alle anderen Tage zeigen ähnliche Werte. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die SWISS mittlerweile von sechs Flugzeugen spricht, die Helvetic im Wet-leasing ganzjährig für sie einsetzt (Quelle: SWISS Communications).
Die Verträge, die SWISS mit ihren Wet-leasing-Partnern schliesst, sind öffentlich nicht einsehbar. Im Fall der Helvetic Airways besteht die strategische Partnerschaft seit bald zwei Jahrzehnten. Eine feste Verankerung der beiden Geschäftsmodelle ist Grundlage für die Zusammenarbeit. Weiter wird seit Jahren über eine starke Abhängigkeit durch möglichen Lobbyismus des Helvetic-Eigentümers Martin Ebner spekuliert. Ebner, der zunächst Mehrheitsaktionär gewesen war, übernahm 2006 mit seinem Unternehmen Patinex AG (Sitz: Wilen bei Wollerau) alle Anteile und stellt bis heute das finanzielle Rückgrat der Fluglinie dar. Fragwürdig bleibt das Geschäftsmodell in mehreren Aspekten: Wie erginge es der Helvetic Airways, sollte sich die SWISS eines Tages von ihr trennen? Hier sprechen die Zahlen für sich: Über 90 Prozent der durchgeführten Flüge, wie die Flightradar24-Statistik für September 2022 zeigt, sind SWISS-Flüge. Auf ihrer Webseite verspricht Helvetic dem Fluggast zwar höchsten Reisekomfort und Schweizer Qualität – doch wie lässt sich dieser mit Gerüchten über atypische Arbeitsbedingungen und fristlose Kündigungen von Cockpitpersonal zu Beginn der Corona-Pandemie rechtfertigen? Zumindest über die erste Frage sollte man nicht zu lange sinnieren. Eine zuletzt oft gehörte Begründung der SWISS-Geschäftsleitung zum Einsatz der Helvetic ist, dass die Airline Flüge ausführen und Strecken bedienen kann, die der SWISS selbst so nicht möglich sind. Wobei sich wiederum die Frage stellt, welche Gründe ausser einer schlichtweg günstigeren Operation ausschlaggebend sein sollen, wenn doch eine CSeries einer E190/195-E2 in nichts nachsteht.
Und wer war da noch?
Richtig: In der Vergangenheit hat die SWISS nicht nur Helvetic Airways als Wet-leasing-Partner eingesetzt. Auch Austrian Airlines half dem Premium Carrier der Lufthansa Group seit 2014 mit vier Dash-8 inklusive Crews aus. Was zunächst als Nachfolger für die innerschweizerische Strecke Zürich-Lugano mit 76 Sitzen begann, die bis dahin zwischenzeitlich durch Etihad Regional (ehemals Darwin Airline mit Saab-2000-Flotte) bedient wurde, nahm schon bald SWISS-typische Entwicklungen an. So wurden die Dash-8 plötzlich unter anderem auf Strecken nach Stuttgart, Hannover, Lyon eingesetzt, die der Avro RJ-100 mit ähnlicher Sitzplatzkapazität zuvor bedient hatte. Diese Erweiterung war so nie vorgesehen gewesen. Für die betroffenen Crews der SWISS European und später SWISS Global verkleinerte sich nicht nur das Streckennetz. Beliebte Rotationen, wie zum Beispiel der «Doppel-Stuttgart» mit frühem Check-out, die zu einer Zufriedenheit bei der Planbarkeit des Soziallebens beitragen konnten, sowie favorisierte Layover, unter anderem in Hannover, Nürnberg oder Stuttgart, wurden von den österreichischen Crews durchgeführt. Die Anzahl an Positionierungen für SWISS-Crews hingegen häufte sich stark. Nach vier Jahren wurde der Vertrag mit Austrian Airlines nach abgeschlossener Ausmusterung der RJ-100 und mit beginnender Indienststellung des Airbus 220 Ende 2018 nicht verlängert. Die Dash-8 kehrten bis zu ihrer endgültigen Ausflottung im Jahr 2020 zur Austrian zurück.
Nach Austrian Airlines kamen schliesslich Saab 2000 der slowenischen Adria Airways im Wet-leasing für die Verbindung nach Lugano zum Einsatz. Die Flüge wurden vor allem als Zubringer für Langstreckenverbindungen ab Zürich genutzt, die Rentabilität liess hingegen immer weiter nach. Im September 2019 kündigte Adria Airways die Insolvenz an. Der Inlandflug für die SWISS wurde eingestellt. Seitdem kann der Flughafen Zürich ab Lugano in etwas mehr als zwei Stunden per Zug erreicht werden. Andere Verbindungen der Adria Airways wurden nach deren Pleite von der Deutschen Lufthansa übernommen. So nahm die SWISS ab Herbst 2019 die Verbindung Ljubljana-Zürich nach mehrjähriger Unterbrechung in den eigenen Flugplan wieder auf.
Die lettische Aushilfe
Nur wenige Tage nach der Ablehnung des GAV2022 durch die AEROPERS-Mitglieder verkündigte die SWISS Anfang August 2022 die Zusammenarbeit mit Air Baltic für den kommenden Winterflugplan 2022/23. Ziel sei eine Stabilisierung des Flugplans und Planungssicherheit. Sechs Airbus 220-300 mit Air Baltic Crews sollen dazu eingesetzt werden. Gut für die angespannte Planungssituation und den Personalbestand bei der SWISS. Zudem ein Fluggerät, das bereits in der SWISS-Flotte vorhanden ist und mit gleicher Bestuhlung unkomplizierter als ein neuer Flugzeugtyp ins Netzwerk passt. Erfahrung im Wet-leasing ist bei Air Baltic durch bestehende Kooperationen mit Eurowings, Eurowings Discover und SAS ausreichend vorhanden. Es gehe darum, Crews, die im Sommer Enormes geleistet haben, gezielt zu entlasten, verrät SWISS-CCO Tamur Goudarzi Pour im Interview mit «Travel Inside». So könnten Ferien nachgeholt werden und dennoch ein Flugangebot von 80 Prozent im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2019 gemacht werden. Dies entspreche der Planung, die bereits 2021 stattgefunden hat, so Goudarzi Pour. Wieso also all die Aufregung?
Schauen wir uns Air Baltic ein wenig genauer an: Gegründet 1995 durch den Zusammenschluss von Baltic International, einer privaten Fluggesellschaft, die durch US-Investoren finanziert wurde, und Latavio, dem lettischen Zweig der Aeroflot, deren Privatisierung scheiterte, ist die staatliche Fluggesellschaft Lettlands heute mit einer modernen Flotte von 41 Flugzeugen, bestehend aus 36 A220-300, unterwegs. Die weiteren fünf Flugzeuge sind geleaste Airbus 319/320, eine Boeing 737 und eine Fokker 100. Das Streckennetz erstreckt sich über ganz Europa bis in den Nahen Osten und Vorderasien. Als die Airline 2011 in Liquiditätsprobleme geriet, erhöhte der lettische Staat das Grundkapital um umgerechnet knapp 80 Millionen Schweizer Franken. Mit der Verstaatlichung wurden Teile der Geschäftsführung umstrukturiert, was auch personelle Folgen hatte. Zu betonen ist Air Baltics Pünktlichkeit, für die sie mehrmals ausgezeichnet wurde.
Verträge im Niedriglohnsektor
Die schlanke Struktur von Air Baltics findet sich insbesondere bei den Finanzen: Während ein Cabin Crew Member unter 1500 Euro pro Monat verdient, liegen auch die Pilotenlöhne weit unter dem Durchschnitt. So nennt unter anderem die Webseite jobs.pilotbase.com Einstiegslöhne als First Officer von 3800 Euro brutto. Eine Übersicht der Air Baltic zeigt, dass First Officer in drei unterschiedlichen Stufen angestellt werden, ausgehend von einem Basissalär von 3400 Euro brutto im Level 1. Anscheinend um ausreichend Bewerber anzulocken, nennt Air Baltic in ihrem digitalen Job Centre durchschnittliche Lebenshaltungskosten bei einem Wohnsitz in Riga. Die Preise für einen Kaffee für 2,17 Euro, ein Busticket ab 1,15 Euro und eine 1-Zimmer-Wohnung ab 370 Euro sollen überzeugen, auch mit einem Niedriglohn gut über die Runden kommen zu können. Jedoch sind viele Piloten der Air Baltic Pendler, sodass sie ihr Geld ohnehin in ihrer Heimat ausgeben und zusätzliche Reisekosten für das Pendeln anfallen. Im Angesicht dieser frappierenden Zahlen hilft auch das Statement des Air Baltic-CEOs Martin Gauss, dass er während der Corona-Pandemie auf sein Gehalt verzichtet habe, wenig.
Eindrücklich ist auch die Geschichte von Dejan Ehrbar, der als Flugschulen-Absolvent eine Anstellung als First Officer bei Air Baltic erhielt, nachdem er das Assessment vollständig und positiv durchlaufen hatte. Mit Beginn der Corona-Pandemie wurde die Einstellung auf Eis gelegt, dem jungen Piloten aber versichert, er befinde sich in einem sogenannten «Holding Pool» mit guten Aussichten nach der Krise. Nach erneuter Stabilisierung des Flugbetriebs begann Air Baltic wieder Cockpit-Personal zu rekrutieren. Von Ehrbar wurde nun verlangt, das komplette Assessment neu zu durchlaufen, obwohl er mit Versicherung auf eine Anstellung doch positiv gescreent worden war. Heute ist der Nachwuchspilot bei einer anderen Airline als First Officer angestellt.
Die SWISS betont den positiven Effekt der Kooperation mit Air Baltic im eigenen Hause: eine Entlastung für die eigenen Cabin Crew Member auf der Kurzstrecke.
Seien wir ehrlich: Ein modernes Fluggerät und eine hohe Pünktlichkeitsrate sind nicht oder nicht nur die ausschlaggebenden Faktoren, die zur Firmenwahl beitragen. Umfragen der AEROPERS haben ergeben, dass eine Planbarkeit des sozialen Lebens, eine faire Entlohnung und gemeinsames Wachstum heute die Kriterien sind, die für den Piloten an oberster Stelle stehen. Eine Air Baltic überzeugt mich persönlich dabei nicht.
Wo bleibt die «SWISS-ness»?
Eines haben aktuelle und vergangene Wet-leasing-Programme der SWISS gemeinsam: Der Standort Schweiz ist Fluggesellschaften aus geografisch naheliegenden Ländern wie Österreich und Slowenien oder Nordeuropäern aus Lettland wenig oder gar nicht bekannt. Die Schweizer Kultur, Tradition und Werte können nicht mal so kurz übernommen werden. «Als Fluggesellschaft der Schweiz steht SWISS für deren traditionelle Werte», bekennt sich die SWISS in ihrem Unternehmensprofil. Ich erinnere mich an hochmotivierte Cabin Crews mit Homebase Genf, die vor einigen Jahren einen Wechsel an die Homebase Zürich als Karrieremöglichkeit und persönliche Horizonterweiterung sahen. Bei einigen wurde bei der Ablehnung im Bewerbungsverfahren als Grund die unzureichenden deutschen Sprachkenntnisse genannt. Auch auf den Flügen zwischen Genf und Zürich setzte die SWISS strikt keine, respektive nur in operationellen Ausnahmefällen, rein frankophone Crews ein, da Deutsch als Voraussetzung galt. Wieso gibt man diese Haltung so plötzlich auf und greift auf lettische Cabin Crews zurück, die als Einstellungsvoraussetzung englische, lettische und russische Sprachkenntnisse mitbringen sollen (Quelle: airbaltic.com/cabin-crew)? Sind wir so in Not geraten? Was machen Frau und Herr Schweizer, die in die Ferien fliegen und am Abfluggate stehen und in einen A220 ohne Schweizerkreuz einsteigen? Wer empfiehlt die Produkte der SWISS an Bord so charmant wie unsere Besatzungen? Und wo bleibt die Erfahrung bei Rückfragen über Prozesse am Umsteigeort Zürich oder Anschlussverbindungen, die der Fluggast mit an Bord bringt? Die Qualität des lettischen Kabinenpersonals soll an dieser Stelle nicht infrage gestellt werden – vielmehr ist die Frage, ob es mit dem SWISS-Produkt harmonisieren kann.
In meinem letzten Recurrent Ground Course Anfang August wurde an der LAT Switzerland berichtet, dass nun endlich wieder zahlreiche FAB-Kurse (Grundkurs für Cabin Crew Members) stattfinden können, diese ausreichend gefüllt sind und man sogar für diese Schulungen im Jahr 2023 über Trainingskapazitäten in der Nacht nachdenken muss. Grosszügig gerechnet dauert ein solcher Kurs zwei Monate, was bedeutet, dass mit Beginn des Winterflugplans bereits einige neue CCM auf der (Kurz-)Strecke einsatzbereit sein müssten. Im Winter ist die Operation erfahrungsgemäss reduziert. Reichten die Kapazitäten der SWISS mit Unterstützung der langjährigen und sicheren Zusammenarbeit durch Helvetic Airways und der eigenen Tochter Edelweiss, die im Feriensegment im Winter auch weniger fliegt, nicht aus?
Ein falscher Mix
Wie wir gesehen haben, kann das Wet-leasing-Geschäft Fluggesellschaften Chancen und Sicherheit in Zeiten der erhöhten Nachfrage und eigenen Kapazitätsgrenzen bieten. «Stabilität ist für uns nebst der Sicherheit das oberste Gebot», so SWISS-CCO Tamur Goudarzi Pour. Wichtige Stichworte in diesem Kontext bleiben jedoch Transparenz und Limitierung. Transparent müssen Verträge und Arbeitsbedingungen sein, wie das Beispiel der Eurowings Discover zeigt, die aktuell Finnair-A350 im Wet-leasing einsetzt. Dass das Wet-leasing nicht dazu dienen sollte, dem Unternehmen beim Wachstum zu helfen und/oder es auf Basis der Anmietung von anderen Flugunternehmen neu zu strukturieren, hat das perfide Beispiel der Ryanair gezeigt. Die Vereinigung Cockpit (VC) fasst in ihrer Pressemitteilung vom 19. September 2022 die Problematik wie folgt zusammen: Wurde Wet-leasing in der Vergangenheit dazu genutzt, Überkapazitäten und zeitweisen Mehrbedarf auszugleichen, dient es heute vermehrt als dauerhaftes Mittel zur Kostensenkung. Stefan Herth, Präsident der VC, äussert sich kritisch: «Das derzeit immer stärkere Aufkommen von Wet-leasing ist nichts anderes als die nächste Form von Sozialdumping.» Er fordert, dass nun alles darangesetzt werden müsse, die «dubiosen Formen des Wet-leasings trockenzulegen».
Im Fall der SWISS steht nun der Einsatz von sechs zusätzlichen Jets einer lettischen Airline mit fragwürdigen Anstellungsbedingungen bevor. Vor Redaktionsschluss kommunizierte die SWISS zudem ihre Absicht, die Kooperation auch auf den Sommerflugplan 2023 auszuweiten und Air Baltic länger im Wet-leasing einzusetzen. Begründet wird der neue Schritt durch die notwendige, weitere Stabilisierung des Flugangebots und eine grösstmögliche Planungssicherheit. Gleichzeitig beruft sich das Unternehmen auf das Ziel, 85 Prozent der angebotenen Sitzkilometer (ASK) im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2019 anbieten zu wollen. Wie wurde das höherliegende und enorme Flugangebot damals gestemmt? Laut der neusten Kommunikation der SWISS sollen weiterhin mindestens sechs Helvetic-Flugzeuge für sie im Einsatz stehen. Meine Recherchen reichen nicht bis in den Sommer 2019 zurück. Doch ich wage die These, dass auch damals nahezu die gesamte Helvetic-Flotte für die SWISS im Wet-leasing abhob. Durch den neuen Vertrag mit Air Baltic werden Arbeitsplätze zu einem fernen Anbieter ausgelagert. Unsere Kunden sollen laut Medienmitteilung an Bord «das gewohnte SWISS-Angebot» erwarten können. Dort sind allerdings nicht SWISS-Angestellte, sondern Arbeitnehmende, die unter ganz anderen Anstellungsbedingungen arbeiten. Im weitesten Sinn werden hier Lohn- und Sozialdumping betrieben, Lohngelder und Kaufkraft ins Ausland transferiert.
Ins gleiche Kapitel passt die Mitteilung der SWISS von Mitte Oktober, dass die zur Edelweiss transferierte A340 im kommenden Sommer die SWISS-Verbindung nach Montreal im Wet-leasing betreibt. Der SWISS zufolge fehlen auf dieser Strecke die wichtigen Premium-Kunden, und bei der Edelweiss lasse sich durch die geringe Blockzeit eine bessere Flugzeugproduktivität erreichen. Immerhin handelt es sich mit dem Einsatz der eigenen Schwestergesellschaft salopp gesagt weniger um ein aggressives Wet-leasing, sondern eher um eine Kooperation, bei der die Edelweiss Crews in einem ähnlichen Rahmen wie das SWISS-Personal angestellt sind.
Es ist zu hoffen, dass die Rekrutierungsmassnahmen und Anpassungen bei den anstehenden GAV-Verhandlungen mit dem Kabinenpersonal dazu führen werden, dass die SWISS wieder eine Personalstärke erreichen kann, um nicht nur die angestrebte Produktion zu stemmen, sondern auch Spitzen im Netzwerk bewältigen zu können, ohne ausländisches Personal aus 1500 Kilometern Entfernung einfliegen zu müssen.
Persönlich freue ich mich auf den Moment, in dem das Schweizer Ehepaar an Bord des SWISS-Flugs in einer grünlich lackierten Maschine «zwöi Kaffi Crème und es Gipfeli» bestellt. Nicht zu vergessen, dass die Cockpit-Besatzung in diesem Flugzeug weniger verdient als ein Senior Cabin Crew Member bei der SWISS. ♦