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Geschrieben am 19.11.2022

The President's Voice 4/2022

Mit der Unterschrift unter das Eckwertpapier für den GAV2023 neigen sich die wohl längsten GAV-Verhandlungen der Geschichte der AEROPERS einem Ende zu. Noch ist der Vertrag nicht in Kraft, doch schon jetzt traue ich mich zu sagen, dass uns der Weg zum GAV2023 wohl in mehrfacher Hinsicht in Erinnerung bleiben wird: 

1. Ein Verhandlungsmarathon
Am 5. Oktober 2021 startete die erste Verhandlungsrunde. Die eigentlichen Vertragsverhandlungen dauerten damit ziemlich genau zwölf Monate. Nimmt man die vorangegangenen Verhandlungen rund um die nicht zustande gekommene Krisenvereinbarung dazu, sind es ziemlich genau zwei Jahre, die der Verband fast durchgehend verhandelt hat.

2. Seitenweise ungültiger Vertragstext
Selten zuvor wurde so viel Vertragstext produziert wie in diesen Verhandlungen. Wir erinnern uns an ein Memorandum of Understanding 1 (MoU; von der Geschäftsleitung abgelehnt) und an ein MoU 2 (von der Geschäftsleitung und der AEROPERS angenommen), das dann zu einem GAV2022 führte, der aber von den Mitgliedern abgelehnt wurde. Nicht zu vergessen schliesslich das endgültige Eckwertpapier und der GAV2023.

3. Viel verspielter Goodwill
Die Verhandlungen rund um den neuen GAV waren auch ein negatives Musterbeispiel, wie man das Vertrauen und den Goodwill der eigenen Belegschaft verspielen kann. Begonnen hat das Ganze mit der Kündigung des GAV2018 während der grössten Krise der Luftfahrt. Für die Pilotinnen und Piloten war dies, als würde man ihnen den Boden unter den Füssen wegreissen. Vertrauensbildende Massnahmen sehen anders aus. Der Tiefpunkt wurde aber erst später erreicht, als ein gemeinsam ausverhandeltes MoU von der Geschäftsleitung abgelehnt wurde. 

4. Neun Monate vertragsloser Zustand
Für die meisten von uns war der vertragslose Zustand Neuland. Beide Seiten waren bemüht, in dieser unsicheren Phase nicht zusätzlich Öl ins Feuer zu giessen. Somit war für das einzelne Flight Crew Member der Unterschied kaum spürbar. Die Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern war während des vertragslosen Zustands durch mangelnden Datenaustausch und den Stillstand einiger Projekte erschwert. Kaum einer von uns hätte gedacht, dass dieser Zustand neun Monate andauern würde. 

5. Hohe Abstimmungsbeteiligung und klare Ergebnisse
Die Beteiligung an den Abstimmungen war erfreulich hoch. Stimmbeteiligungen von über 95 Prozent zeigte das Engagement des Korps und bekräftigten die Legitimation des Verbands als Verhandlungspartner. Zudem waren die Ergebnisse (über 80 Prozent Ablehnung des GAV2022, über 90 Prozent Zustimmung zu Arbeitskampfmassnahmen) klar und deutlich. Ich würde mir wünschen, auch in Zukunft eine so hohe Stimmbeteiligung bei Wahlen und Abstimmungen zu erreichen.

6. Das Korps steht zusammen
Eines der wohl wichtigsten Elemente in der Schlussphase der Verhandlungen war der Zusammenhalt des Korps, das geschlossen hinter der Verbandsführung stand. Der Marsch zum Sitz der SWISS in Kloten mit rund 400 Kolleginnen und Kollegen wird uns wohl noch die nächsten Jahre in Erinnerung bleiben. Diese Geschlossenheit ist unsere Stärke. Wir waren selten so nahe an einem Arbeitskampf wie bei diesen Verhandlungen, und selten waren wir so gut darauf vorbereitet wie dieses Mal. 

Ihr könnt Euch vorstellen, dass die Verbandsführung in den vergangenen Monaten anspruchsvoll und oft auch kräfteraubend war. Ich möchte mich einerseits beim Team des Vorstands bedanken, das trotz des hohen Arbeitsaufwands stets hochmotiviert und professionell gearbeitet hat. 

Ganz persönlich bedanken möchte ich mich für Eure Unterstützung. Ich habe mich von Euch getragen und unterstützt gefühlt und zu jedem Moment die Rückendeckung durch das Korps gespürt. 

Doch auch wenn nun ein Kapitel geschlossen werden kann, so ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Nach den GAV-Verhandlungen ist bekanntlich vor den GAV-Verhandlungen. Einerseits muss der GAV2023 zunächst einmal in die Praxis umgesetzt werden. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das auch immer gewisse Anfangsschwierigkeiten bereitet. Andererseits beinhaltet der zukünftige GAV mehrere Projekte – etwa das Projekt zur Verbesserung der Planbarkeit des Soziallebens –, die während der Laufzeit umgesetzt werden müssen. Hier soll die Arbeit zeitnah aufgenommen werden. 

Nach der langen und konfrontativen Verhandlungsphase freue ich mich aber auf die hoffentlich kooperative, projektbezogene Zusammenarbeit mit unserem Vertragspartner.

Nach den GAV-Verhandlungen mit der SWISS stellt sich in nicht allzu langer Zeit die Frage, wie es bei der Edelweiss mit dem GAV2019 weitergeht. Im Sommer 2023 wäre der erste Zeitpunkt, diesen mit einer Frist von 12 Monaten zu künden. An Themen für Vertragsverhandlungen würde es wohl beiden Seiten nicht mangeln. 

Das Wachstum der Edelweiss ist zwar sehr erfreulich, wirft aber auch Fragen auf und stösst nicht nur auf Gegenliebe beim Korps. Besonders, wenn der Aufbau nicht durch organisches Wachstum gestemmt werden kann, sondern Freelancer oder sogar Direct Entrys notwendig werden. 

Generell komme ich immer mehr zur Überzeugung, dass eine stärkere Durchlässigkeit zwischen den beiden Pilotenkorps der SWISS und Edelweiss aus mehreren Gründen sinnvoll wäre und auch beiden Firmen Vorteile verschaffen würde. Eine stärkere Verschränkung der beiden Korps würde auch den Pilotinnen und Piloten mehr individuelle Möglichkeiten und Perspektiven schaffen. Mit dem trilateralen Projekt zur Einführung eines Übertrittsmodels wäre der Grundstein sowohl im GAV2019 der Edelweiss als auch im zukünftigen GAV2023 mit der SWISS gelegt. 

Das Interesse der beiden Firmen an einer solchen Lösung hält sich allerdings bislang eher in Grenzen. Vielleicht ändert sich das in Zukunft. Auf jeden Fall würde ich mir wünschen, das Projekt in naher Zukunft anzugehen, um die Vor- und Nachteile zumindest einmal zu prüfen. Vielleicht sind so in Zukunft Probleme des Über- und Unterbestandes am Platz Zürich elegant zu lösen. Das wäre ja ein schönes Projekt, um die Zeit ohne GAV-Verhandlungen zu füllen …

Ich wünsche Euch einen guten Start in den Winter – mit hoffentlich viel Schnee in den Bergen und auf den Skipisten und wenig Schnee auf dem Flugzeug und den Landepisten. 

Clemens Kopetz, Präsident