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Geschrieben am 1.4.2023

Der Suchoi Superjet 100 könnte Russland weniger abhängig von Herstellern wie Airbus oder Boeing machen. Die Produktionszahl ist dafür aber viel zu niedrig, und Komponenten wie Fahrwerk, Avionik und Motoren stammen ohnehin aus westlicher Produktion.

Der grösste Flugzeugdiebstahl der Welt

Die durch den Krieg verhängten Sanktionen der westlichen Staaten gegen Putin drängen die russische Luftfahrt in die grösste Isolation ihrer Geschichte. Wir schauen uns an, wieso diese ein Jahr nach Kriegsausbruch immer noch nicht am Boden ist und fragen Denys Davydov, einen ukrainischen ehemaligen Captain bei Ukraine International Airlines, wie er die Situation um die ukrainische Luftfahrt sieht.


Text: Marc Horstick


Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und den daraufhin verhängten Sanktionen gegen den Kreml war Anfang des letzten Jahres die russische Luftfahrt scheinbar zum Grounding verurteilt. Da man der Ansicht war, dass Russlands Handlungsfähigkeit dermassen vom Westen abhänge, entpuppten sich die verhängten Einschränkungen überraschenderweise als viel weniger einschneidend als angedacht. Immer noch wütet Machthaber Putin in der benachbarten Ukraine, und auch die Luftfahrt kam, im Gegensatz zu den Erwartungen vieler Experten, nicht komplett zum Erliegen. 
Wer die russische Hauptstadt, aus welchen Gründen auch immer, heute besuchen möchte, bucht kinderleicht Flüge über einen Hub wie Dubai oder Istanbul. Die Strecke scheint sich offenbar zu rentieren. Denn mindestens zweimal täglich ist unter anderem eine A380 der Emirates zu Besuch am Flughafen Domodedovo.
Es stellt sich also die Frage, wieso die russische Luftfahrtbranche nach dem Inkrafttreten internationaler Sanktionen nicht unmittelbar implodierte und die Flotte der Aeroflot, hauptsächlich bestehend aus westlichen Flugzeugmustern, immer noch Strecken ins In- und Ausland bedient. 

Der Tag, der alles änderte
Der Konflikt zwischen dem russischen Machthaber Wladimir Putin und dem benachbarten Brudervolk aus der Ukraine begann bereits im Februar 2014, als es zu einem bewaffneten Angriff auf die Halbinsel Krim kam. Fast genau acht Jahre später eskaliert die Situation erneut mit dem Einmarsch russischer Streitkräfte in das Staatsgebiet der Ukraine. Der neu entfachte Krieg dauert nun fast ein Jahr an und schickt Russland in die grösste politische Isolation seiner Geschichte. Mittlerweile verloren über 40 000 junge Menschen ihr Leben, und 14 Millionen Menschen flüchteten aus ihrer Heimat.
Als die westliche Staatengemeinschaft ihren Luftraum für russische Flugzeuge sperrte, folgten zahlreiche Airlines und beendeten prompt ihre Kooperationen mit russischen Partnern. Auch Airbus und Boeing lieferten fortan keine Ersatzteile mehr nach Russland. Nachdem Eurocontrol den Luftraum über der Europäischen Union und später auch die Schweiz den ihrigen für russische Flugzeuge gesperrt hatten, konnten die sich zu jener Zeit im Ausland befindlichen geleasten russischen Maschinen nicht mehr nach Russland aufmachen und blieben an Flughäfen auf der ganzen Welt gestrandet. Unklar ist, ob die abgestellten und mittlerweile verwahrlosten Flugzeuge je wieder abheben werden beziehungsweise können.

Grosse Kreativität und grober Diebstahl 
Die verhängten Sanktionen auf die russische Wirtschaft und deren Luftfahrt sollten eigentlich deutliche Wirkungen binnen weniger Wochen zeigen. Wieso sind die Einreise und der Luftverkehr innerhalb von Russland noch möglich?
Laut dem US-amerikanischen Luftfahrtexperten Richard Aboulafia der Consultingfirma AeroDynamic Advisory liege es an einer Kombination verschiedener Ursachen. Unter anderem seien durchlässige Sanktionen, vorhandene Ersatzteillager, kreative Notlösungen und das Kannibalisieren der vorhandenen Flugzeugflotte die Gründe. Vor Beginn des Kriegs flogen annähernd 800 Flugzeuge für russische Airlines. 350 davon mit geringem Durchschnittsalter für die staatliche Aeroflot-Gruppe. Dies waren hauptsächlich Muster von Boeing und Airbus. Damit bestimmte sie 40 Prozent des russischen Markts und war unter den Top Ten der weltweit grössten Airlines.
Aboulafia erklärt, dass die bis dahin enorme Flottenvergrösserung und -erneuerung eine Folge des Abkommens von Kapstadt seien. Dadurch seien alle beteiligten Staaten, unter anderem auch Russland, überaus kreditwürdig. Das lockte Investoren an, die wiederum die Flugzeugflotten aus Sowjet-zeiten von Grund auf erneuerten. Mit den zum Grossteil im Ausland geleasten, modernen, westlichen Jets wurden zudem neue Sicherheitsstandards und Wartungsintervalle in der russischen Luftfahrt etabliert.
Nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine wurden Sanktionen verhängt und sämtliche Leasing-Flugzeuge von den ausländischen Investoren unmittelbar zurückverlangt. Alles in allem sind dies über 400 Flugzeuge mit einem Wert von über zehn Milliarden Dollar. Flugzeuge, die die Leasingfirmen ziemlich sicher nie wieder sehen werden, denn Präsident Wladimir Putin schuf kurzerhand die Grundlage für ein neues Gesetz, das die Ummeldung und Registrierung dieser Flugzeuge in Russland ermöglichte.
Nach internationalen Regeln ist eine solche doppelte Registrierung ein schwerer Verstoss gegen das Chicagoer Abkommen und deshalb nicht zulässig. Vadim Lukaschevich, russischer Luftfahrtexperte, räumt ein, dass Russland diese Flugzeuge damit im Endeffekt gestohlen habe. Er fügt hinzu: «Jetzt muss es der russischen Regierung zur Aufgabe gemacht werden, Ersatzteile zu stehlen.»

Russlandfreundliche Netzwerkanpassungen
Damit die annektierten Flugzeuge nicht im Ausland festgehalten werden und weil sie ohnehin eigentlich nicht mehr abheben dürften, beschränkt sich ihr Einsatzgebiet derzeit auf russische Inlandrouten. So manche Boeing 737 und 777, die schon vor dem Krieg in Russland gemeldet war und auch die von Leasingfirmen abgekauften A330 eignen sich hingegen potenziell auch für Strecken ins russlandfreundliche Ausland. Und genau das passiert momentan auch wieder. So sind Auslandsreisen wie zum Beispiel in die Türkei oder nach Armenien kein Problem mehr. Steigt man unter anderem in Istanbul um, kann theoretisch die ganze Welt bereist werden. Weggebrochene Verbindungen ins Ausland, die etwa 50 Prozent des Passagiervolumens ausmachten, kehren so langsam wieder zurück ins Repertoire. Die Staatsairline und Regierung schaffen sich durch diese Workarounds eine Art eigene Realität.
Einige private Airlines zeigen sich allerdings weitsichtiger und signalisieren den Leasinggebern, ihre Flugzeuge zurückgeben zu wollen, um zukünftig, nach einem Ende des Kriegs, neue Leasingangebote zu erhalten. Soweit zumindest der Plan. Die grösste Hürde dabei wird sein, dass auch dieses Vorhaben vorerst von der Regierung geprüft und abgesegnet werden muss. 

Totgeglaubte leben länger
Anders als weitläufig angenommen, besteht die Aeroflot-Flotte schon seit einigen Jahren zum Grossteil aus Flugzeugen westlicher Hersteller. Das Ausbleiben der benötigten Ersatzteile nach dem Kooperationsstopp stellt für den Erhalt des Zustands der russischen Maschinen derzeit ein enormes Problem dar. Entweder befinden sich die Flugzeuge bereits in einem desaströsen Zustand oder werden es bald sein. Es kursieren Aufnahmen, auf denen Cockpits mit unzähligen «INOP»-Aufklebern, schwarzen Displays und zahlreichen «ECAM»-Meldungen zu sehen sind. Die Minimum Equipment List wird offenbar nur noch zu informativen Zwecken genutzt. Noch einen Schritt weiter geht der russische Verkehrsminister, der anstösst, dass auch Pilotinnen und Piloten Wartungen an Flugzeugen vornehmen sollen. Sowieso stellt sich die Frage, inwiefern die Besatzungen in ihrem eigentlichen Aufgabenbereich, dem Fliegen, nach internationalen Vorgaben trainiert werden können.
Dass die Flugzeuge «flugtauglich» (im weitesten Sinne) gehalten werden können, liegt anscheinend am geschickten Management der verfügbaren Ressourcen. Dank des um die Hälfte reduzierten Flugplans können momentan geparkte Flugzeuge ausgeschlachtet und als Ersatzteillager verwendet werden. So dient zum Beispiel eine momentan abgestellte A350 für die verbleibende Flotte als Organspenderin. Nun geht die russische Regierung sogar noch einen Schritt weiter und genehmigte unter Missachtung jeglicher Patentrechte das Nachbauen originaler Ersatzteile.
Die Produktion hiesiger Flugzeughersteller, wie Suchoi oder Irkut, wird den Flugzeugbedarf der Russen langfristig aber auch nicht decken können. Auch für diese Flugzeuge wurden bisher unzählige Komponenten aus Grossbritannien, Frankreich und den USA zugeliefert. Suchoi plante bereits vor dem Krieg, den Anteil an in Russland gefertigter Teile bis zum Jahr 2024 um 50 bis 60 Prozent zu erhöhen.
Das Grounding der russischen Luftfahrt scheint absehbar zu sein. Warten wir ab, welche kreativen zusätzlichen Lösungen zum Weiterbetrieb gefunden werden. Eins steht fest: Sobald der Krieg und die verhängten Sanktionen enden werden, braucht es noch nie dagewesene Massnahmen, um die Flugzeuge auf einen anerkannten Stand der Wartung zu bringen. Andernfalls wird, wie viele weitere Flugzeuge weltweit, die gestrandete Aeroflot-A321 noch lange Gast in Genf bleiben.

Auswirkungen für den ukrainischen Markt
Anfang 2022 galt der Luftverkehrsmarkt in der Ukraine noch als überaus vielversprechend. In den davor liegenden 20 Jahren hat sich das Passagiervolumen verachtfacht. Gründe für den aufstrebenden Markt sind die Arbeitsmigration und die hohe Zahl der ausgewanderten Menschen, die regelmässig Freunde und Verwandte in ihrer Heimat besuchen. Auch ist die Wirtschaft bis zum Krieg erstarkt und damit einhergehend das Einkommen gewachsen. Das Bruttosozialprodukt stieg in den letzten fünf Jahren vor dem Krieg um fast das Doppelte. 
Ukraine International Airlines, die sich nach der Corona-Krise in einem enormen Wachstum befand, schmiedete bereits grosse Pläne für die Zukunft. 2021 wurde ihre Flotte um zwei Boeing 777 und fünf Embraer 190 verstärkt. Die ukrainische Regierung kündigte zudem die Gründung einer im Staatsbesitz befindlichen Airline und den Bau dreier zusätzlicher Flughäfen an.
Nach dem Einmarsch der russischen Streitkräfte heben heute nur noch die wenigsten blau-gelben Flugzeuge ab – und dies meist im Wet-leasing im benachbarten Ausland. Nicht nur ukrainische Luftfahrtbetriebe trifft die neue Realität. So haben auch die Low-cost Carrier durch den Krieg Markteinbussen zu verzeichnen. Mit 17 Prozent Sitzkapazitätsanteil war die Ryanair die Marktführerin in der Ukraine und wollte im Sommer sogar bis zu 20 Jets im Land stationieren. Auch Wizz Air hatte grosse Expansionspläne am zentral gelegenen Flughafen Kiew-Schuljany angekündigt, die nun erstmal wieder auf Eis gelegt wurden.

Interview mit einem ukrainischen Flüchtling
Neulich, auf einem Flug nach Paris Charles de Gaulle, stellte sich unserer Crew Denys Davydov vor, ein ehemaliger Captain der Ukraine International Airlines. Erfreulicherweise erklärte Denys sich bereit, zu einem späteren Zeitpunkt der «Rundschau» in einem Interview Fragen zur Luftfahrt in der Ukraine und dem Krieg zu beantworten.

«Rundschau»: How long has it been since your last flight?
Denys Davydov: My last flight was on the 21st of February, three days before Putin started the war. Very soon it will be one year without flying. Luckily, our unions were able to organize flight simulator checks to keep our ratings valid.
I did my LPC at the Paris training center. They provide simulator sessions to Ukrainian pilots for free. Unfortunately,
I must admit, ten months without flying can affect one’s performance, but still, I thought that it would be harder.

Were there pilot layoffs at Ukraine International Airlines?
We have not had pilot layoffs due to of the war, but only some pilots are able to fly the charter flights that are still available for my airline. Four airplanes stayed in the EU when the war started, but the majority of the UIA fleet stayed in Kyiv-Borispol. Luckily, most of our Boeing 777s are still in long-term storage in Spain since COVID sparked, and one 777 in Boryspil is being used to block one of the taxiways to prevent Russian military planes from landing there. 
So most pilots of the UIA are still employed and do not receive any salary. Pilot unions help in individual cases, but the budget is limited. Apart from that, there is no financial support.
The only pilot layoffs were during COVID. All Boeing 777 and 767 aircraft were grounded, which reduced the fleet by 40 percent. At that time, UIA decided to dismiss all Boeing 737 first officers and move senior captains from long-haul jets to short-haul jets.

What about other colleagues? What are they doing now?
Everyone has a different way out of the current situation. There are not many pilots left flying for UIA. Some colleagues were hired by Ryanair and LOT.
Others changed their professions completely. They became farmers or bus drivers. During this time, it is better to have any kind of job than nothing.
Some pilots even went to fight in the war. Those with military experience now fly transport airplanes like the Antonov 26 and the Ilyushin 76.

How was life in Kiew during the last few months?
Life in Kyiv was very hard during the first few months after the Russian invasion. Especially when it comes to city suburbs on the east. For example, Bucha, Irpin, and Gostomel Airport. But after the Russians retreated from the Kyiv region, life became more or less normal. I returned to Kyiv with my family after having fled to the countryside during the most dangerous time. Since October, the situation has changed again. Russia started to use cruise missiles to hit our critical infrastructure. Staying without water, electricity, and heating during the winter was very hard, so we moved to the countryside again. We had a fireplace to warm up the house, and I also bought a generator and a battery against power outages, but it still was not good for the family. My daughter could not attend her online classes because of the unstable internet connection, and going to school is simply too dangerous. That is why we decided to leave Ukraine.

What made you and your family move to Switzerland?
My wife´s sister also used to live in Buzova. After her house was hit by bombs and severely damaged, they moved out the first week after the war started. They decided to move to Switzerland. Ten months later, it was clear for us to do the same. We have our own reasons to move here. With the Status S that Switzerland provides, Ukrainians can find jobs and children can go to school. Plus, the process of obtaining the S permit is clear and fast compared to other countries. Switzerland also has one of the best social and humanitarian networks for the Ukrainian refugees. My family does not need that because I have some extra income from the YouTube channel, and we just spend what we earned in Ukraine. One more reason is that Switzerland is a neutral country, and in the worst-case scenario of a global war, I think it will remain the safest country in Europe.
Now the main goal is to return to aviation. First, I have to obtain the EASA license and then apply to airlines. Obviously, I need to study German. I may even return to general aviation for some time. That is what I did back in Ukraine when we did not have many flights during COVID.

Do you think aviation will recover in Ukraine once the war is over?
I believe that it is going to be a long term conflict with a possible escalation. Nevertheless, I am sure that Ukraine is able to withstand the aggression and will secure its sovereign right to be an independent country. After the war, there will still be many airlines, and most refugees will return home. The economy will start to breathe again. I am not sure about UIA, but there will be many other airlines based in Ukraine since the market has great potential.

Are there preparations in progress for a possible ramp-up?
Our aviation authorities tried to open Uzhgorod airport, which is not far from the Slovakian border, but finally gave up on that idea. That was probably the only progress that I saw in the Ukrainian aviation field.

How do you think people in the EU and Switzerland can help Ukrainians?
Switzerland already does and continues to do a lot to support Ukrainians. I think there is no need for extra help. As a Ukrainian, I am very grateful to the Swiss society for welcoming us here. I have not seen such wonderful and polite people who are willing to help before. There are still a lot of things that surprise us here, mainly of a positive nature. Again, my situation is more simple since we have savings to sustain a normal life here. Ukrainians who do not have enough money have more issues, but hopefully they will find jobs soon. From what I see, there are two big problems in general: the first is to master a new language, and the second is to find apartments for long-term rent, which is not that easy compared to Ukraine.

Anything else you would like to say?
It was a fantastic experience to fly on board a SWISS A220. I hope to fly more in the future. I wish you and your airline all the best in 2023. Safe skies to you!

Thank you, Denys, for your honest and detailed answers. We wish you all the best!