Geschrieben am 22.11.2022

«Das Senioritäts- Prinzip fördert die Sicherheit wie kein anderes, da es mit der Just Culture ein elementarer Baustein dafür ist, ein Arbeiten ohne Angst vor möglichen Konsequenzen wegen Fehlern zu ermöglichen.»
Von der Natur inspiriert: «AeroSHARK»
Um den Luftwiderstand an Flugzeugen zu reduzieren, entwickelten Ingenieure der BASF und der Lufthansa Technik «AeroSHARK» – eine der Haifischhaut nachempfundenen Folie. Die SWISS stattet nun ihre gesamte Boeing-777-Flotte mit ihr aus und möchte mit den optimierten Rumpfoberflächen Treibstoffverbrauch, Emissionen und Kosten senken.
Text: Marc Horstick
Jedes Prozent zählt
Nachhaltigkeit und Kostenreduktion sind nicht nur Phänomene der Luftfahrt der letzten zehn Jahre. Wo in den Anfangsjahren des kommerziellen Flugzeugbaus vor allem auf windschnittigere Formen gesetzt wurde, verschob sich der Fokus in den letzten Jahrzehnten in Richtung des Potenzials beim Motorenbau. Die Devise war stets, den Wirkungsgrad zwischen hinzugeführter Energie, dem Treibstoff, und der erzeugten Energie, dem Schub, zu maximieren. Kurz: Die Triebwerke mussten immer effizienter werden. Nun spricht man von elektrisch angetriebenen Lufttaxis und synthetisch hergestelltem Kerosin. Ebenso prominent ist Wasserstoff, der in Brennstoffzellen Strom für Elektroantriebe erzeugt oder direkt im Treibwerk verbrannt wird. Am Flugzeugdesign hingegen hat sich schon lange nichts mehr verändert. So fliegt die modernste Boeing 737 immer noch mit dem gleichen Rumpf und den Flügeln von vor 60 Jahren. Lediglich Winglets an den Flügelenden kamen hinzu, um den induzierten Widerstand zu reduzieren. Beim Rest der Aerodynamik bleiben sich die Flugzeughersteller treu und veränderten nichts am funktionierenden System. Vor allem die Oberflächenbeschaffenheit erhielt auf Grund ihres weniger ins Gewicht fallenden Beitrags am Gesamtwiderstand kaum Aufmerksamkeit und daher wenige Innovationen. Genau hier kommt aber die neue Technologie von BASF und der Lufthansa Technik ins Spiel. Nach dem Motto «Jedes Prozent zählt», versucht die Lufthansa-Gruppe nun hier ebenfalls Einsparungen zu erwirken. «AeroSHARK» wird die Folie genannt, deren Beschaffenheit an die Oberfläche eines Hais erinnert. Mit ihr beklebte Flugzeuge sollen, dank des geringeren Widerstands in der Grenzschicht, bei einem Langstreckenflug bis zu einem Prozent an Treibstoff und damit verbundene CO2-Emissionen einsparen. Laut Dieter Vranckx sei die SWISS-Flotte bereits eine der modernsten und CO2-effizientesten in Europa. Dank «AeroSHARK» verbessere man diese Bilanz noch einmal mit der Überzeugung, dass es auf jede grosse und kleine Einsparung ankommt.
Die Technologie dahinter
Die mit den «Riblets», also feinen Rillen, versehene Folie bedient sich am Paradebeispiel der Bionik: der Haifischhaut aus Placoid-Schuppen. Das raffinierte Meisterstück der Natur besteht aus abertausenden Mini-Zähnchen, die die Haut der Knorpelfische bilden. Sie bedecken den gesamten Haikörper und sind strukturell wie Zähne aufgebaut. In den 1970er Jahren entdeckte der Tübinger Paläontologe und Zoologe Professor Wolf-Ernst Reif eine zusätzliche Rillenstruktur der Schuppen unter dem Mikroskop. An ihr entstehen viele kleine Wasserwirbel, die die Reibungswirkung beim schnellen Schwimmen weiter verringern. Reif erkannte: Je feiner und ausgeprägter die Rillen sind, desto schneller schwimmt der Hai. An den Ecken der bewegten Ministrukturen bilden sich zudem kleine Wirbelschleppen, die einen vorauswirkenden Sog erzeugen. Somit wird nicht nur der Widerstand verringert, sondern tatsächlich an jeder Haifischhautschuppe sogar ein Vortrieb erzeugt. Dieser Effekt erhöht die Geschwindigkeit um über zwölf Prozent. Die entscheidende Wirkung entsteht aber an den scharfen und relativ hohen Rillenfirsten. Sie verhindern, dass bremsende Turbulenzen in der Grenzschicht zum umgebenden Wasser entstehen und verringern so die Reibung an der Oberfläche des Tiers. In Luft- und Raumfahrtfahrttestversuchen wurden die Strömungsverhältnisse untersucht. Durch das Verständnis der physikalischen Funktionsweise der Rillenstrukturen konnte eine Optimierung an künstlich entwickelten Nachbildungen gezielt durchgeführt werden. Die Wandreibung wurde dabei anscheinend um bis zu zehn Prozent verringert.
Das Phänomen der Haifischhautoberfläche lässt sich übrigens auch mathematisch beschreiben. Das überlassen wir aber lieber mal den Mathematikern.
Versuche
Die möglichen Einsparungen erscheinen regelrecht zu schön, um wahr zu sein. Die Verlockung, mit einem geringen Reibungswiderstand Treibstoff zu sparen, hat Forschende und Ingenieure immer wieder dazu bewegt, neue Entwicklungen in diesem Bereich voranzubringen. Bisher aber ohne durchbruchbringende Erfolge. In Kooperation mit dem Technologieunternehmen 3M machte Strömungsmechaniker Dietrich Bechert 1996 erste Fortschritte und entwickelte die «Riblet»-Folie. Um die Wirksamkeit der Rillenstruktur zu erproben, wurde ein Airbus 320 mit 700 Quadratmetern der Spezialfolie beklebt. Bereits diese, damals noch nicht ausgereifte Beschichtung reduzierte den Treibstoffverbrauch um bis zu drei Prozent. Versuche mit verbesserten Nachfolgern erzielten später sogar Einsparungen von acht Prozent. Dennoch hat sich die «Riblet»-Folie bis heute im Flugzeugbau nicht durchgesetzt. Grund dafür sind die genutzten Werkstoffe. Bislang konnte kein Material gefunden werden, das mit den Widrigkeiten des Flugalltags zurechtkommt. Zum einen machten die enormen Temperaturunterschiede und zum anderen die UV-Strahlung in grosser Höhe die Folie überaus spröde. Die dadurch entstandenen Risse glichen die gewonnen aerodynamischen Vorteile relativ rasch wieder aus. Auch die vor ein paar Jahren entwickelten vielversprechenden Rillenplatten von Lufthansa Technik, die mittels automatischer UV-Applikation am Flugzeug angebracht wurden, schafften es nicht zur Serienreife.
Was spricht noch dagegen?
Boeing hat in einem vor einigen Jahren publizierten Bulletin seine Meinung zu Oberflächenbeschichtungen zur Widerstandsverringerung kundgetan. Vor allem der geringe Anteil des Reibungswiderstandes von 0,3 Prozent am Gesamtwiderstand wird als wichtigstes Argument angeführt. Moderne Boeing-Flugzeuge hätten keine signifikanten Regionen mit einem laminaren Luftstrom. Zwar könne eine Oberflächenbeschichtung kleinere Unregelmässigkeiten ausgleichen, die Verbesserung der Strömung sei dadurch aber nur marginal. Einfachste Berechnungen hätten gezeigt, dass eine kleine Vergrösserung des laminaren Luftströmungsanteils keinen messbaren Effekt auf den Gesamtwiderstand habe.
Austretende Flüssigkeiten wie Treibstoff, Hydraulik- und Motorenöl, die an den Aussenflächen eines Flugzeuges haften, würden mit Verschmutzungen durch Dreck, Staub und Insekten einen grösseren Beitrag zum Reibungswiderstand beisteuern. Eine mit Schmutz kontaminierte Boeing 777 verbrauche demnach etwa 43 300 Kilogramm mehr Treibstoff pro Jahr. Laut Boeing sei die einfachste und preiswerteste Methode für eine möglichst glatte, widerstandsarme Oberfläche, diese regelmässig zu reinigen. Ausserdem könne man dadurch Korrosion und Lackschäden besser vorbeugen und mögliche Leckagen und Strukturschäden schneller erkennen. Wichtiger als eine perfekte Oberfläche seien ohnehin passgenaue Gummidichtungen und der spielfreie Sitz von beweglichen Teilen wie Ladenklappen und Steuerflächen.
Sehr kritisch äusserte sich zudem die Universität Havard, die neuste wissenschaftliche Erkenntnisse zu Haifischhaut-Technologien veröffentlichte. So seien Schwimmanzüge des englischen Schwimmartikelherstellers Speedo, die ebenfalls eine Rillenoberfläche aufweisen, nur unwesentlich schneller als Konkurrenzprodukte ohne bionische Nachahmungen. Messungen hätten ergeben, dass sie nur bei beweglichen Körpern, wie denen der Haie, nachweislich Strömungsverbesserungen ermöglichen. Dass diese Schwimmanzüge dennoch Geschwindigkeitsvorteile böten, läge nicht an der Haifischhaut nachempfundenen Oberfläche, sondern an Passform und Kompression am Körper der Athletinnen und Athleten.
Entgegen der Herstellerempfehlung
Trotz der pessimistischen Beurteilung von Boeing und Co. machte sich die Lufthansa Technik vor einigen Jahren mit dem Technologieunternehmen BASF daran, eine entsprechende Folie zu entwickeln. Denn dass eine Rillenfolie einen positiven Effekt auf die Strömung haben kann, war spätestens nach Versuchen von Berchert und 3M evident. Verantwortlich war die «Beyond Paint Solutions»-Einheit des Unternehmensbereichs «Coatings» der BASF. Auf Grund der zu erwartenden extremen äusseren Einflüsse auf die Aussenhaut wurde bei der Entwicklung der Fokus auf extreme Widerstandsfähigkeit und Wetterfestigkeit der Folie gelegt. Ausserdem wurden für eine Anwendung im Luftfahrtbetrieb eine einfache Anbringung und Handhabung sowie eine unkomplizierte Reparaturfähigkeit entwickelt. Das Projekt wurde passend zum Technologiegeber aus der Natur «AeroSHARK» getauft. Wo genau liegen aber die technischen Unterschiede zu vorherigen Prototypen? BASF antwortete der «Rundschau» hierzu, dass sich der eingesetzte Film im Rahmen turnusmässiger Wartungsarbeiten am Rumpf anbringen liesse und dadurch keine weiteren Standzeiten notwendig seien. Zudem ist das Produkt transparent, wodurch auch die ästhetischen Anforderungen erfüllt würden. Vor allem sei aber die zuvor erwähnte Widerstandsfähigkeit der entscheidende Faktor. Zum Schutz des intellektuellen Eigentums konnte BASF keine weiteren Details erläutern, wie diese letztlich erreicht werden kann.
2019 starteten die ersten Erprobungsflüge mit der neuartigen BASF-Folie an einer Boeing 747. Die am unteren Rumpf angebrachte Folie bestätigte nach dreijähriger Testphase die Performancesteigerung mit errechneter Einsparung und die Strapazierfähigkeit bei den Widrigkeiten des Flugalltags.
Nachdem bereits die Lufthansa Cargo ankündigte, sämtliche Flugzeuge ihrer Flotte mit der «AeroSHARK»-Technologie auszustatten, wird nun die SWISS ihre zwölf Boeing 777-300ER als erste Passagierairline weltweit mit jeweils 950 Quadratmetern dieser innovativen Folie bekleben. Hierfür wird eine nochmals überarbeitete Weiterentwicklung verwendet, die eine Mindestnutzung von vier Jahren verspricht. Übrigens kann die lange Passagiervariante der Boeing 777 mit etwa 150 Quadratmetern mehr Folie beklebt werden als die Frachtvariante.
Eine solche Modifikation am Flugzeug muss mit einem Supplemental Type Certificate (STC) von der EASA zertifiziert sein. Dazu stand das BAZL im direkten Austausch mit der SWISS, um die benötigten Testflüge zu koordinieren. Nach dem «GO» der Behörde wird die Folie, ähnlich dem Bekleben einer Sonderbemalung zum Beispiel anlässlich des «Fête des Vignerons», von Kolleginnen und Kollegen der Lufthansa Technik und der SWISS Technik an die restlichen Flugzeuge angebracht.
Die zu erwartenden Einsparungen beim Treibstoffverbrauch liegen konservativ gerechnet bei 1,1 Prozent. Bei einem zwölf Stunden Flug wären das in Zeit umgerechnet etwa acht Minuten Ersparnis. Jährlich kumulieren sich dadurch bei der SWISS 4800 Tonnen Treibstoff und etwa 15 200 Tonnen CO2. Das sind umgerechnet 87 Flüge von Zürich nach Mumbai. Die hohen Kosten in der Anschaffung und dem Unterhalt der Folie sind natürlich nicht zu vernachlässigen. Dennoch soll sich das Projekt nach bereits zwei Jahren amortisieren. Nach dem Ende der Lebensdauer ist geplant, dass die Folie im Zuge einer Neulackierung eines Flugzeugs entfernt wird. Dazu wird diese zusammen mit dem Lack chemisch abgelaugt und kann deswegen nicht separiert werden. Die entstehenden vier Paletten Plastikmüll, durch Reststücke und Verpackungsmaterial, werden hingegen wie üblich recycelt werden.
Was bedeutet das für Pilotinnen und Piloten?
Merkt man einen Unterschied, wenn man ein mit «AeroSHARK» ausgestattes Flugzeug fliegt? –wahrscheinlich nicht. Lediglich der Rumpf und die Triebwerksverkleidungen werden foliert. Alle Steuerflächen und die Flügel behalten den Originalzustand und der um 1,1 Prozent geringere Treibstoffverbrauch sollte im Flug gar nicht erst auffallen. SWISS-777-Pilotinnen und -Piloten müssen wissen, dass Schäden an der Folie als rein kosmetisch angesehen werden können. Sogar komplette Teilstücke der Folie dürfen fehlen. Etwaige Ausbesserungen werden dann erst in den A-Checks vorgenommen und können eigenständig von der SWISS Technik durchgeführt werden. Nähere Infos, Hinweise und Anweisungen sollen aber dem entsprechend publizierten OPS Bulletin entnommen werden.
Wieder im Blick
Laut Lufthansa Technik sei auch bei anderen Airlines Interesse vorhanden. So sollen, nebst der Lufthansa Cargo und der SWISS, zukünftig Dritte mit der innovativen Haifischhaut versorgt werden. Mittlerweile haben aber auch Hersteller wie Boeing und Airbus den Oberflächenfilm wieder im Blick. Man pflege, laut Boeing, bei Technologie- und Nachhaltigkeitsthemen ohnehin eine tiefe Partnerschaft und Zusammenarbeit mit der Lufthansa. Zudem werde derzeit zusammen mit einer anderen, nicht genannten Airline selbst eine ähnliche Technologie getestet. Dabei überprüfe man vor allem die Haltbarkeit über einen längeren Zeitraum im täglichen Betrieb.
Auch bei mehreren anderen Flugzeugbauern wurde das Interesse an «AeroSHARK» geweckt. Man sei momentan im engen Austausch mit der Lufthansa Technik und führe Gespräche. Laut Medienberichten befinde sich unter anderem Airbus in diesem Interessentenkreis. Wie Boeing forschte auch Airbus bereits selber zum Thema und erwog die haifischhautähnliche Beschichtung auf den Tragflächen und dem Höhenleitwerk des A350 ab 2020 anzubringen. Unklar ist, warum es die Technologie nicht zur Serienreife schaffte. Andere vielversprechende Projekte lassen ebenfalls noch auf Fortschritte warten. So unter anderem das Projekt «Blade» – ein von Airbus entwickeltes Flügelprofil, das eine fast ausschliesslich laminare Strömung erzeugen und den Widerstand um bis zu 50 Prozent senken soll. Auch «Morphing-Wings», also Flügel, die sich sehr fein ihrer Umgebung anpassen, befinden sich in der Erprobung und könnten vielleicht Anwendung beim Kurzstreckenflugzeug der nächsten Generation finden.
Bis dahin werden aber Aftermarket-Lösungen wie «AeroSHARK» eine Vorreiterrolle spielen und die Luftfahrt ein Stückchen nachhaltiger machen. ♦