Geschrieben am 20.11.2022

«Das Einzige, was neu ist, so scheint es, ist der Umgang mit der (Sozial-)Partnerin.»
Die Zukunft ist gemeinsam
Nach fünf Jahren im Redaktionsteam der «Rundschau»: ein Rück- und Ausblick vom scheidenden Redaktor Roman Boller.
Text: Roman Boller
Was schreibt man in seinem letzten Artikel für die «Rundschau»? Über die schönsten Erfahrungen, den liebsten Beitrag? Oder vielleicht ein persönlicher Rückblick? Fangen wir doch mal damit an: Ich erinnere mich nämlich noch gut daran, wie ich vor mehr als fünf Jahren das erste Mal ins Ewige Wegli gekommen bin. Etwas zögerlich habe ich das Gebäude der AEROPERS betreten. Nach noch nicht einmal zwei Jahren bei der SWISS wusste ich nicht genau, was mich in dieser Gewerkschaft erwartet. Arbeitsscheue Ideologen mit roten Fahnen und gelben Westen? Als stolzer Pilot unserer Schweizer Airline wollte ich doch bestimmt nicht gegen meine eigene Arbeitgeberin anheuern. Schnell wurde mir aber klar, dass in den Katakomben in Kloten keineswegs firmenhassende Deserteure am Werk sind, die nur auf den besten Augenblick warten, ihre Airline für einen zusätzlichen Freitag in den Abgrund zu reissen.
Ein GAV ist nicht nur eine Option
Ein gänzlich unpolitischer Rückblick auf meine Zeit als Redaktor bei der «Rundschau» will mir anscheinend nicht so recht gelingen. Wie auch? Es sind aktuelle Themen, die mich und wohl alle meine Kolleginnen und Kollegen beschäftigen. Dabei gilt mein Fokus nicht nur den grossen Krisen unserer Zeit, von denen es zur Genüge gäbe. Auch kleinere Themen erwecken meine Aufmerksamkeit. Arbeitnehmermangel, Fachkräftemangel, Inflation oder starke Quartalszahlen von grossen Unternehmen. Auch ein Blick in aviatische Zeitungen lohnt sich: Erfolgreiche Verhandlungen mit angebrachten Lohnerhöhungen und Inflationsausgleich bei nahezu allen kleinen und grossen Airlines in- und ausserhalb Europas. Nur eine der grossen Airlines in Europa schien sich dem Zeitgeist lange verschlossen zu haben. Lange kämpfte sie dagegen an, die Wichtigkeit der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren berechtigte Interessen anzuerkennen. Bevor wir versuchen, dieses Verhalten einzuordnen, werfen wir doch noch einen Blick in die interne Kommunikation. War diese nach Beginn der Pandemie noch von Gemeinsamkeit und Geschlossenheit geprägt, fanden sich je länger je mehr Unregelmässigkeiten darin. Jede SWISS-Pilotin und jeder SWISS-Pilot hat spätestens anhand der Lohnausweise der letzten Jahre gespürt, dass durchaus ein Krisenbeitrag geleistet wurde. Dass dieser nach wie vor regelmässig aberkannt wird, dürfte kaum Zufall sein. Natürlich werden diese Kommunikationen auch von anderen Mitarbeitergruppen gelesen. Nicht nachvollziehbare und auf falschen Berechnungsgrundlagen beruhende Beträge, die der AEROPERS als Angebot unterbreitet wurden, folgten. In der Politik könnte schon von einer Schmutzkampagne die Rede sein. Dabei konnte das Resultat am Ende nur eines sein: ein gemeinsamer GAV. Ein solcher ist, anders als auch schon propagiert, eben nicht nur eine Option. Nur mit einem ausgewogenen GAV kann dieses Unternehmen auch in Zukunft so erfolgreich wirtschaften. Und ein erfolgreiches Unternehmen ist in unser Aller Interesse.
Krisentauglich
Niemand konnte die «grösste Krise der Luftfahrtgeschichte» kommen sehen. Keine Airline war auf ein solches Szenario vorbereitet. Entscheidungen, die in einer solch aussergewöhnlichen Situation getroffen wurden, im Nachgang zu beurteilen, ist schwierig. Sie dürfen dennoch kritisch hinterfragt werden. Offenkundig hat das Unternehmen sein Vorgehen in der Krise drastisch verändert. Weg von den Bemühungen, Geschlossenheit und Solidarität zu propagieren, hin zum «Kampf» gegen die eigenen Mitarbeiter. Trotz Kurzarbeit wurden in Büros und vor allem in der Kabine viele Mitarbeitende entlassen. Natürlich war eine Redimensionierung unumgänglich. Der Umfang des Rundumschlages hat dennoch überrascht. Der Gesamtarbeitsvertrag mit den Pilotinnen und Piloten wurde mit fadenscheinigen Begründungen und nach kurzen Verhandlungen über eine Krisenvereinbarung gekündigt. Man versuchte, mit dem kaum absehbaren Verlauf der Krise mitzuhalten. Um diesen Verlauf einzuschätzen, wurden immer wieder Expertenberichte vorgelegt – allen voran vom Beratungsunternehmen McKinsey. Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass Experten von einschneidenden Ereignissen und der darauffolgenden Entwicklung fast immer überrascht wurden: Der Fall der Berliner Mauer, die Attacken vom 11. September oder der Arabische Frühling sind nur einige Beispiele. Unser Verband hat Weitsicht bewiesen, indem er unter anderem die Entlassung unserer jüngsten Kolleginnen und Kollegen durch solidarische Lösungen verhindern konnte – ein Krisenbeitrag, der uns jetzt im Aufschwung sehr zugutekommt. Natürlich ist ein Berufsverband in einer angenehmeren Lage als ein Arbeitgeber. Die AEROPERS darf auf die Lichtblicke aufmerksam machen und Geschlossenheit demonstrieren, während an der Obstgartenstrasse oft undankbare Entscheidungen zu treffen waren. Dennoch hat die AEROPERS einmal mehr bewiesen, dass sie auch im Auge des Sturms zu tragbaren Lösungen Hand bietet. Egal, ob der einseitig gekündigte GAV18 nun krisentauglich war oder nicht, mit ihm und gemeinsam mit dem Pilotenverband konnte die grösste Krise der Luftfahrtgeschichte erfolgreich gemeistert werden.
New Normal
Immer wieder wurde davon gesprochen, dass unser Unternehmen unsere berechtigten Interessen anerkennen muss. Wie diese Interessen aussehen, ist bekannt. Doch was bedeutet eigentlich «anerkennen»? «In der philosophischen Tradition bedeutet Anerkennung etwas anderes als die Anerkennung, die dem Mitarbeiter des Monats mittels einer Urkunde gezollt oder als Bonus in Anerkennung besonderer Verdienste ausbezahlt wird. Anerkennung meint vielmehr die grundlegende Bestätigung der eigenen Existenz, die ein Individuum dadurch erfährt, dass es wahrgenommen und dass auf seine Äusserungen geantwortet wird. Dass es, mit anderen Worten, nicht ins Leere spricht», so Daniel Strassberg in der «Republik» vom 4. Oktober 2022. Wieso verweigert sich denn unsere Arbeitgeberin so lange dagegen, unsere Interessen wahrzunehmen? Wieso schien es lange, als würden wir eben immer «ins Leere sprechen»? Ob die Verhandlungen mit dem Pilotenkorps der erfolgreichsten Airline im Lufthansa-Verbund heimlich von den Grossaktionären gesteuert werden, darf zumindest bezweifelt werden. Sicherlich fällt deren Wort schwer ins Gewicht. Dennoch dürften sich deren Interessen übergeordneten Themen widmen. Was die wahren Beweggründe sind, die diesen Kampf beinahe bis zum letzten eskalieren liessen, wird wohl das Geheimnis der Protagonisten bleiben. Wenn sich dann eines Tages der durch die Verhandlungen aufgewirbelte Staub über den grossen Scherbenhaufen «Sozialpartnerschaft» gelegt hat, werden die meisten Akteure dieses Schauspiels weitergezogen sein. Wir Piloten werden jedoch mindestens vier Jahre mit diesem Vertrag arbeiten. Wird sich dann das viel besagte «new normal» eingependelt haben? Der einst so populäre Begriff ist jüngst etwas in Vergessenheit geraten. Vielleicht, weil sich schlussendlich doch gar nicht so viel geändert hat? Die Nachfrage ist bereits nahe ans Vorkrisenniveau gestiegen. Wie vor der Krise zeigt der Trend nach oben. Hätten wir mehr Equipment und passend geschultes Personal, würden wir nächstes Jahr wohl bereits mehr als die angepeilten 85 Prozent des Flugplans von 2019 anbieten können. Die EBIT-Marge wird sich früher als später ebenfalls wieder in den gewohnt hohen Sphären bewegen. Das Einzige, was neu ist, so scheint es, ist der Umgang mit der (Sozial-)Partnerin.
Gemeinsam erfolgreich
Ich bin etwas abgeschweift. Was ist denn nun nach dem Eintritt ins Gebäude am Ewigen Wegli passiert? Ich habe viele Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Airlines kennenlernen dürfen. Ich war überwältigt von der Professionalität, mit der hier gearbeitet wird. Die Arbeit für die «Rundschau» hat mir diverse Türen geöffnet, und ich habe Einblick in verschiedenste Bereiche in- und ausserhalb unseres Unternehmens erhalten. Dabei habe ich viele Beispiele von konstruktiver Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeberin und Berufsverband erleben dürfen. Ein Blick in die Geschichte der AEROPERS zeigt, dass die Unterstützung des Unternehmens für ihre erfolgreiche Entwicklung weit zurückreicht. Bereits kurz nach der Gründung gelang die Einführung der DC6B anfangs der fünfziger Jahre nur dank der intensiven Arbeit von Robert Fretz, dem damaligen AEROPERS-Präsidenten (Réne Lüchinger, Als die Swissair fliegen lernte). Viele grosse und kleine Krisen folgten: Terroranschläge, Vulkanausbrüche, Öl- und Finanzkrisen, das Grounding der Swissair. Und nun wurde auch die jüngste, grösste Krise der Luftfahrtgeschichte, wenn auch nicht immer stilvoll, dann aber doch gemeinsam überstanden. Und auch unsere Arbeitgeberin kann bei solch erfolgreichen Zahlen nicht alles falsch gemacht haben. Der aktuelle Umgangston ist also ein neues Phänomen. Gemeinsames, meist erfolgreiches Arbeiten zwischen Verband und Airline hat dagegen Tradition. Es werden neue Herausforderungen und sicher auch Krisen kommen. Ein Vertragswerk soll und kann nicht alle Eventualitäten abdecken. Das Vertrauen in die eigene Arbeitgeberin ist vorerst wohl zerrüttet. Das kann für beide Parteien nicht erstrebenswert sein. Denn ob man will oder nicht: Auch unter dem neuen Vertrag wird man miteinander reden und verhandeln müssen, egal ob als Vertrags- oder Sozialpartnerin. Die letzten Jahre waren intensiv, emotional und teilweise frustrierend. Doch zumindest etwas äusserst Wertvolles können wir aus dieser Zeit mitnehmen: Die überwältigende Einigkeit und Solidarität in unserem Korps. 80,5, 93,7 und 95,9 Prozent. Das sind eindrückliche Zahlen. Rang-, Alters- und Flottenunabhängig sind wir zusammengestanden – und werden das auch in Zukunft tun. ♦