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Geschrieben am 20.11.2022

Der erste Zürcher Generalstreik von 1912 vor dem Volkshaus.

«Das Ende krönt das Werk»

Der drohende Streik der SWISS-Piloten ist vom Tisch. Für die Schweiz war der drohende Streik etwas Seltenes und Ungewohntes. In anderen Ländern ist dies nicht der Fall. Das Recht, für seine Arbeitsbedingungen zu kämpfen, ist im 19. Jahrhundert durchgesetzt worden. Die Arbeitnehmer müssen jedoch klare Regeln einhalten, um für ihr Recht kämpfen zu dürfen.


Text: Dominik Haug

Schon bereits vor der Industrialisierung gab es immer wieder Streiks von der arbeitenden Bevölkerung. Historiker argumentieren, dass das entscheidende Merkmal von Arbeiterbewegungen der organisierte Protest ist. Daher lässt sich die Entstehung der organisierten Arbeiterbewegung zwischen die 1830er Jahre und 1848 datieren. In den 1830er Jahren wurden erste Organisationen der Arbeiter im Ausland gegründet. 1848 schlossen sich Arbeiter im Zuge der Revolution von 1848/1849 in der «Allgemeinen Arbeiterverbrüderung» zusammen. Die Arbeiterbewegung machte mit Protesten, Streiks und Unruhen auf sich aufmerksam. Zu Beginn der Industrialisierung wurden diese Unruhen allerdings noch brutal niedergeschlagen. Während der Industrialisierung waren die Arbeiter der Willkür der Fabrikbesitzer ausgesetzt, die im Zuge des Kapitalismus ihren eigenen Gewinn maximieren wollten. Das äusserte sich in Form von katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter. Das Hauptproblem war der zu niedrige Lohn und die fehlende soziale Absicherung. Das Ziel der Arbeiterbewegungen war die Emanzipation der Arbeiterklasse und die Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen. Mehr Rechte sollten ihnen helfen, sich gegen die Ausbeutung der Unternehmer zu wehren. Das übergeordnete Ziel war daher die Besserung der sozialen Lage der Arbeiter. Diejenigen, die dem Marxismus folgten, wollten mit ihrer Bewegung den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat beenden und die Arbeiterklasse befreien. Die Forderungen der Arbeiter umfassten heute selbstverständliche Punkte wie beispielsweise die 40-Stunden-Woche, Mindestlohn, 5-Tage-Woche, Kündigungsschutz, Versicherungen gegen Unfall und Krankheit und Mitspracherecht. Ein weiterer Grund für die Gründung der Arbeiterbewegung war die soziale Frage, die sich im 19. Jahrhundert mit den misslichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der ärmeren Bevölkerung beschäftigte. Besonders die Industriearbeiter waren von diesen Bedingungen betroffen. Durch die soziale Frage sollte die Politik angeregt werden, der Armut entgegenzuwirken. Somit stellt die Arbeiterbewegung auch eine Politisierung der Arbeiter im Zuge der sozialen Frage dar.

Die Arbeiterbewegung hat sich in verschiedenen Formen organisiert:

Genossenschaften
In England und Frankreich gab es die Genossenschaftsbewegung zuerst. Die Idee der Genossenschaftsbewegung war es, Verbände von Arbeitern zu schaffen, die dann wirtschaftliche und soziale Ziele bei den Unternehmen durchsetzen. Die Genossenschaften waren vor allem ein Mittel für Kleinproduzenten, sich im Markt durchzusetzen. Ein Beispiel ist der Raiffeisen-Verbund, 1877 von Friedrich Wilhelm Raiffeisen gegründet, der die Interessen der Landwirte stärkte. Grundlegend für die Genossenschaften waren Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung.

Gewerkschaften
Die Gründung von Gewerkschaften hatte eine ähnliche Funktion. Gewerkschaften sind Vereinigungen von Interessenvertretern von Arbeitern, um deren wirtschaftliche und soziale Interessen zu fördern. Die Gewerkschaften arbeiteten weniger politisch als die Arbeiterbewegung, aber mehr auf beruflicher Ebene. Die Gewerkschaften ermöglichten einen Zusammenschluss der Arbeiter, um bei Arbeitskämpfen geeinigt vor die Unternehmer zu treten. Bereits seit der Revolution von 1848/1849 gab es Gewerkschaften im Bereich der Buchdrucker und Zigarrenarbeiter, die jedoch mit dem Scheitern der Revolution verboten wurden. Die Hochindustrialisierung liess die Gewerkschaften in Deutschland dann wieder aufleben. Allerdings erschwerte die Politik im Kaiserreich die Arbeit der Gewerkschaften durch Verbote der Koalitionsfreiheit. Dadurch wurden Streiks und Proteste erschwert. Unter der Herrschaft der NSdAP waren Gewerkschaften ebenfalls wieder verboten. Die erste Gewerkschaft der Schweiz wurde im Jahr 1858 gegründet.

Arbeitervereine
Ausserdem äusserten Arbeiter ihren Unmut in Arbeitervereinen. Die Arbeitervereine waren die Vorreiter der Arbeiterbewegung. Ab den 1830er Jahren wurden Arbeiterbildungsvereine gegründet, um den Bildungsstandard der Arbeiter zu erhöhen. Gleichzeitig ermöglichten die Vereine aber auch Geselligkeit und den Austausch über politische Themen.

Als die soziale Frage ihren Höhepunkt erreichte, politisierten sich die Arbeitervereine immer mehr. Einer dieser Arbeitervereine war der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, der 1863 von Ferdinand Lassalle gegründet wurde. Später, 1875, fusionierte der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein mit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands.

Christliche Bewegung
Auch in der Kirche gab es Arbeiterbewegungen. Die christliche Arbeiterbewegung orientierte sich an der katholischen Soziallehre und lehnte die revolutionären Ansätze der sozialistischen Bewegungen ab. Es wurden auch christliche Gewerkschaften gegründet, die Wert auf einen Austausch mit den Arbeitgebern legten.

Sozialismus der Arbeiterbewegung
Im Laufe des 19. Jahrhunderts verbreitete sich der Sozialismus unter den Arbeitern. Der Sozialismus ist eine politische Richtung, die darauf abzielt, Güter gerecht in der Gesellschaft zu verteilen. Somit deckte sich der Sozialismus mit den Zielen der Arbeiter. Mit Gründung der SPD hatten die Arbeiter ihre eigene sozialistische Partei.

Erfolge der Arbeiterbewegung
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm sich der Reichskanzler Otto von Bismarck der Arbeiterbewegung an. Er fürchtete den Sozialismus als Bedrohung und setzte das Sozialistengesetz durch. Dennoch wollte er die grosse Masse der Arbeiter als Unterstützer gewinnen und führte deshalb eine umfassende Sozialgesetzgebung durch. Dadurch hatten die Arbeiter bei bestimmten Bedingungen Anspruch auf eine Kranken-, Invaliditäts-, und Rentenversicherung. Auch verringerte sich die tägliche Arbeitszeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die geforderten 8-Stunden-Tage etablierten sich jedoch erst 1918. Ab 1901 wurde die Sonntagsarbeit aufgehoben.

Arbeitskampf heute
Die Grundlagen zum Arbeitskampf wurden im vorletzten Jahrhundert gelegt. Auch heute noch müssen Mitarbeiter regelmässig für ihre Arbeitsbedingungen kämpfen. Damit für sie daraus kein Nachteil entsteht, müssen sie sich an klare Regeln und Gesetze halten. Der Streik ist die wichtigste Form des Arbeitskampfs der Arbeitnehmer. Daneben hat Hans Matthöfer eine breite Skala von streikähnlichen Formen des verdeckten und offenen Arbeitskampfs beschrieben: unter anderem Leistungszurückhaltung (absichtliches «Bremsen»), Bummelstreik, stiller Boykott, Käuferstreik, spontane Arbeitsniederlegung oder Sitzstreik.

Weitere Möglichkeiten des Arbeitskampfs auf Seiten der Arbeitnehmer neben den klassischen Möglichkeiten sind die Blockade nichtbestreikter Betriebe, Demonstrationen und der Aufruf an die Kunden des Betriebs, diesen zu boykottieren. Ist ein Streik nicht möglich oder strategisch inopportun, können Arbeitnehmer auch Dienst nach Vorschrift leisten.

Auch Arbeitgeber haben erweiterte Kampfmittel zur Verfügung. Sie können einem Streik mit der Aussperrung begegnen, die nach Arbeitsrecht – wie der Streik – unter dem Prinzip der Verhältnismässigkeit steht. Das heisst zum Beispiel, dass ein begrenzter Streik nicht mit einer Totalaussperrung beantwortet werden darf. Als weiteres Kampfmittel verfügen Arbeitgeber über die Möglichkeit der sogenannten «kalten Aussperrung». Sie können in der Konsequenz eines Streiks, der sie nicht unmittelbar betrifft, Arbeitnehmer mit der Begründung zeitweilig entlassen, dass ausbleibende Zulieferungen aus bestreikten Unternehmen die Produktion in ihren Betrieben stilllegen. Derart «kalt Ausgesperrte» haben unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung.

Gewerkschaften bestreiken in der Regel solche Betriebe, deren Beschäftigte in hohem Masse gewerkschaftlich organisiert sind. Sie wollen damit verhindern, dass eine grössere Zahl von Unorganisierten als Streikbrecher auftreten und die Produktion aufrechterhalten. Während eines Streiks muss der Arbeitgeber nach dem Grundsatz «ohne Arbeit kein Lohn» keinen Lohn zahlen. Die Gewerkschaft zahlt ihren Mitgliedern daher Unterstützungsleistungen aus der Streikkasse. Der Staat hat im Arbeitskampf seine Neutralität zu wahren. Er darf folglich an Streikende und Ausgesperrte kein Arbeitslosengeld zahlen, auch wenn diese keine Unterstützung durch die Gewerkschaft beziehen. Der Arbeitsvertrag wird für die Zeit des Arbeitskampfs nicht aufgehoben, sondern lediglich suspendiert, das heisst, es besteht für beide Parteien keine Leistungspflicht.

Die Entscheidung eines Unternehmens, sich an einer Aussperrung seines Arbeitgeberverbands zu beteiligen, hängt von seiner Verbandsloyalität ab, die dort ihre Grenze finden wird, wo die wirtschaftliche Existenz auf dem Spiel steht. Für die Gewerkschaft hängen die Erfolgsaussichten eines Arbeitskampfs wesentlich von der Auftragslage der Unternehmen, der Arbeitsmarktlage und der Kompromissbereitschaft auf der Arbeitgeberseite ab. Bei starker Produktionsauslastung und stabiler Nachfrage scheuen Unternehmen insbesondere längere Arbeitskämpfe. Je knapper qualifizierte Arbeit ist, desto besser stehen die Chancen für die Arbeitnehmerseite und umgekehrt.

Streikrecht aber Friedenspflicht in der Schweiz
Das Streikrecht ist seit dem Jahr 2000 in der Bundesverfassung festgeschrieben. Es ist Teil der «Koalitionsfreiheit», also des Rechts von Angestellten, sich zum Schutz ihrer Interessen zusammenzuschliessen. Streiks sind zulässig, wenn sie Arbeitsbeziehungen betreffen und wenn sie als letztes Mittel eingesetzt werden. Der Arbeitsfriede ist nach Obligationenrecht Teil des Gesamtarbeitsvertrags. Er verpflichtet die Vertragsparteien, auf Streiks zu verzichten, solange der Vertrag gültig und ungekündigt ist. Allerdings handelt es sich dabei um eine «relative Friedenspflicht» – sie beschränkt sich auf Angelegenheiten, die Bestandteil des Gesamtarbeitsvertrags sind.

Umstritten ist, was gilt, wenn ein Vertrag ausläuft. Es ist nicht sinnvoll, Verhandlungen erst nach dem Auslaufen des Vertrags zu führen. Denn dann entsteht eine Vertragslücke, und Protestaktionen und Warnstreiks gehören zu Vertragsverhandlungen. Somit ist auch die Friedenspflicht aus Sicht der Gewerkschaften in den letzten Vertragsmonaten zu relativieren.

Ein eigentliches Streikgesetz existiert für die Schweiz zwar nicht. Jedoch ergeben sich aus der gerichtlichen Praxis einige Voraussetzungen. So muss der Streik von einer Gewerkschaft getragen werden. Zudem hat der Streik Ziele zu verfolgen, die durch einen Gesamtarbeitsvertrag regelbar sind, wie beispielsweise höhere Löhne oder ein früheres Pensionsalter.

Versteht man den Streik in seiner ursprünglichsten Bedeutung als kollektive Arbeitsverweigerung, ist er also nur legal, um damit Forderungen nach bestimmten Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Ein Grenzfall war der grosse Frauenstreik 2019 für eine umfassende Gleichberechtigung inklusive gleicher Löhne: Obwohl die Arbeitgeberverbände behaupteten, der Streik betreffe nicht konkrete GAV-Anstellungsbedingungen und sei deshalb illegal, legten viele Frauen und Männer die Arbeit zumindest für kurze Zeit nieder und wagten sich damit in eine Grauzone – zumeist straflos, denn ihre Chefs fürchteten, sich in der öffentlichen Meinung mit Sanktionen ins Abseits zu stellen.

Eine Grauzone besteht auch dort, wo Protestaktionen aufhören, und ein Streik anfängt. Meist haben die Arbeitnehmenden Überstunden auf einem Zeitkonto und können darüber frei verfügen. Wenn sie sich während Vertragsverhandlungen zu einer Protestversammlung während der Arbeitszeit versammeln und die Arbeitgeber diese Stunde nicht bezahlen, dann ist das kaum ein «richtiger» Streik. Auch in diesem Fall bedeutet dies arbeitsvertraglich, dass die Hauptpflichten ruhen – also nicht nur die Arbeit, sondern auch die Lohnzahlung.

Selbst wenn der Streik nicht rechtmässig ist, bedeutet er keine Verletzung des Arbeitsvertrags und darf keine Strafaktionen nach sich ziehen. Wegen der Teilnahme am Streik ist also weder eine fristlose noch eine ordentliche Kündigung zulässig. Wird sie dennoch ausgesprochen, kann sie als missbräuchlich eingeklagt werden und berechtigt zu einer Entschädigung von bis zu sechs Monatslöhnen. Eine Wiedereinstellung ist jedoch nicht garantiert.

Pilotenstreiks in der Lufthansa Group und in Europa
Durch die Einigung zwischen der AEROPERS und der Geschäftsleitung der SWISS Ende Oktober ist ein drohender Pilotenstreik erst einmal vom Tisch. Sollten die Geschäftsleitung und die Mitglieder der SWISS dem neuen Gesamtarbeitsvertrag auf Basis dieser Einigung zustimmen, dann ist ein möglicher Pilotenstreik für Jahre kein Thema mehr. Anders sieht es in der Lufthansa Group und auch bei anderen Fluggesellschaften in Europa aus. Bei der Air France sind Streiks, für uns gefühlt, ein Teil der Unternehmenskultur. Das komplette Gegenteil als bei uns in der Schweiz. Aber auch bei der Lufthansa gibt es immer wieder Streiks der Belegschaft. Dieses Jahr streikten im Sommer die Bodenbediensteten, was zu einem Stillstand des gesamten Flugverkehrs führte. Auch die die Pilotinnen und Piloten streikten im späten Sommer. Ein zweiter Pilotenstreik konnte durch eine Übergangslösung vermieden werden. Auch bei der Eurowings fiel im Herbst ungefähr jeder zweite Flug aufgrund eines Streiks der Pilotinnen und Piloten aus. In dieser Verhandlung ging es weniger um mehr Lohn, sondern um längere Ruhezeiten.

Es ist jedoch keinesfalls so, dass in Deutschland ein Streik ein so breit verbreitetes Instrument ist, wie beispielsweise in Frankreich. Zwar kommt es auch ausserhalb der Aviatik vereinzelt zu Warnstreiks. Diese begrenzen sich in der Regel auf ein paar wenige Tage. Meistens einigen sich die Verhandlungspartner spätestens nach einer Urabstimmung, bei der ein Streik legitimiert wird. Die Parallelen zur Situation bei der SWISS diesen Herbst sind offensichtlich.

Der Prozess wie es zu einer Einigung zwischen SWISS und AEROPERS kam, wird nicht schnell zu vergessen sein, und man sollte durchaus für die Zukunft Lehren daraus ziehen. Dennoch sei an dieser Stelle an Ovid erinnert, der zu seiner Zeit schon sagte: «Das Ende krönt das Werk». Das Ende der Verhandlungen fand ohne Streik in einer sozialpartnerschaftlichen Lösung statt.