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Geschrieben am 1.4.2023

ECA-Positionpapier zum Thema «Extended Minimum Crew Operation und Single Pilot Operation.

Macht und Ohnmacht in der europäischen Luftfahrt

Dass Fluggesellschaften ihre Arbeitsbedingungen für das Cockpit- und Kabinenpersonal immer fragwürdiger gestalten, ist den Angestellten der Airline-Branche längst bekannt. Doch auch die Aufsichtsbehörde EASA scheint nicht immer an Verbesserungen interessiert. Der Dachverband aller europäischen Piloten, die ECA, berichtet über aktuelle Entwicklungen.


Text: Kevin Fuchs


Im zweitägigen Spezialisten-Seminar der AEROPERS berichtet der Generalsekretär der European Cockpit Association (ECA), Philip von Schöppenthau, über seinen Verband und dessen Aufgaben. Die ECA wurde bereits 1991 gegründet und versteht sich als Dachverband aller Piloten europaweit. Mit 36 Mitgliedsverbänden, die aktuell rund 40 000 Piloten repräsentieren, ist sie eine klassische Interessenvertretung. Dabei werden die Themen in Arbeitsgruppen aufgeteilt, um kollektive Interessen gegenüber Luftfahrtbehörden, zum Beispiel der European Aviation Safety Agency (EASA), und Fluggesellschaften zu platzieren und im Idealfall durchzusetzen. Das zehnköpfige Direktorium der ECA, das sich aus Spezialisten aus verschiedenen Fachrichtungen zusammenstellt, bezeichnet sich selbst als «politische Piloten». «Wir fliegen nicht von A nach B. Unsere Aufgabe ist es zu schauen, wo B sein könnte», erklärt von Schöppenthau an diesem Novembertag am Ufer des Vierwaldstättersees.

Im Cockpit schon bald allein?
In seinem Vortrag an die AEROPERS-Spezialisten widmet sich von Schöppenthau drei grossen Themenbereichen, welche die ECA aktuell auf ihrer Agenda hat: Dabei geht er zunächst auf die sogenannte Reduced Crew Operation (RCO) ein. Basierend
auf den enormen Fortschritten in der Luftfahrt-Technologie während der letzten Jahrzehnte, die nicht nur eine zunehmende Automatisierung, sondern auch die Digitalisierung in Luftfahrzeugen mit sich brachten, entwickeln Flugzeughersteller Konzepte, die Piloten in naher Zukunft aus den Cockpits wegrationalisieren könnten. Die EASA kooperiert dabei eng mit Airbus und Dassault. Konkret geht es um die Umsetzung der beiden Konzepte eMCO (extended Minimum Crew Operations) und SiPO (Single Pilot Operations). Ersteres zielt darauf ab, Flight Time Limitations (FTL) künftig auszuweiten, indem die Inflight Rest Time gezielt verlängert wird. Die Idee davon ist, dass während des Reiseflugs nur ein Pilot im Cockpit ist, während der andere in einem dafür vorgesehenen Bereich, wie dem Flight Crew Rest Compartment auf der A340 respektive dem OFCR auf B777-Flugzeugen, ruht.
Das radikale Single-Pilot-Operations-Konzept hingegen möchte erreichen, die Cockpitbesatzung auf nur einen Piloten an Bord zu reduzieren. Dies soll für alle Zeiten des Flugs, also auch für kritische Phasen wie Start und Landung, gelten. Der Piloten-Dachverband positioniert sich klar und eindeutig gegen beide Konzepte und sieht die Flugsicherheit durch sie unmittelbar gefährdet. Die Entwickler berufen sich auf die wichtige Rolle der Künstlichen Intelligenz (KI), die es ihnen zufolge ermöglichen kann, zukünftig nur noch einen wachen Piloten einzusetzen. Dagegen argumentiert die ECA, dass die Möglichkeiten von KI in der Entwicklung der Luftfahrt zwar unumstritten eine grosse Rolle spielen können, dies allerdings nicht auf Kosten vom Potenzial der Piloten geschehen sollte. Sie fordert deshalb die Nutzung von KI im Einklang mit dem bestehenden Konzept von mindestens zwei Piloten im Cockpit. Nur so könne die Sicherheit gewährleistet und aufrechterhalten werden.

Schwächen der künstlichen Intelligenz
Computer sind zwar bereits in der Lage, bestimmte Aufgaben besser als Menschen zu erledigen, erreichen aber auch schnell ihre Grenzen: Sie können nicht besser sein, als sie programmiert wurden. Die Wichtigkeit des menschlichen Piloten rechtfertigt die ECA in seiner Back-up-Funktion für mehrstufige Systemausfälle und Technologielücken. Weiter kann sich der Mensch der realen Umgebung besser anpassen und unbekannte Situationen ausreichend bewerten. Sowohl in diesem Bereich als auch bei systemseitigen Bedrohungen nennt der Verband den Einsatz von KI als – zumindest heute noch – unzureichend. In ihrem Positionspapier «The Human and the Concepts of eMCO and SiPO» (www.eurocockpit.be) verweist die ECA gezielt auf verbundene Risiken, die es verunmöglichen, weniger als zwei Piloten einzusetzen. Neben einem allgemeinen Sicherheitsbedenken fallen darunter die fehlende Voraussicht und Trendbeobachtung bei einer reinen Computersteuerung im Cockpit. Weiter kann eine Incapacitation des Piloten nicht oder nicht ausreichend abgedeckt werden. Die Reduzierung des menschlichen Flugpersonals gefährdet zudem die Entwicklungsmöglichkeiten im zwischenmenschlichen Bereich: Das Training des Aufbaus von CRM-Kompetenzen (Crew Ressource Management) wird vernachlässigt. Auch Phasen einer hohen Arbeitsbelastung (Work-load Management) könnten durch einen einzigen Piloten eventuell nicht gestemmt werden. Die vollständige Argumentationsbasis, warum die ECA mehr als einen Piloten fordert, findet sich in der Grafik 1 auf der nächsten Seite.

Die EASA gewährt nur wenig Einblick und wittert Einnahmen
Piloten können die Zweifel und Bedenken an eMCO und SiPO aus fliegerischer, medizinischer und sozialer Sicht sicher nachvollziehen, doch Philip von Schöppenthau zeigt auch Stolpersteine ausserhalb des Cockpits auf. Zum einen ist es die fehlende Transparenz der EASA, die nicht nur Aussenstehende betrifft, sondern auch unmittelbare Stakeholder wie die ECA oder Fluggesellschaften, die mit der Umsetzung der Projekte zu tun haben. Ausbleibende Informationen verstärken zudem den faden Beigeschmack. Fragwürdig ist dem Generalsekretär der ECA zufolge, warum die externen Interessengruppen über lange Zeit schlichtweg zu wenig Einsicht erhielten und Fort- und Entwicklungsschritte grösstenteils nur zwischen den Projektinitiatoren (Airbus/Dassault/EASA) ausgetauscht wurden. Dies hat sich erst Anfang 2022 geändert, als auf Druck der ECA schliesslich eine Arbeitsgruppe mit externen Stakeholdern eingerichtet wurde, in der sich die ECA seither sehr aktiv und äusserst kritisch einbringt.
Bei der EASA selbst wird zum anderen ein grosser Aufwand betrieben und beachtliche Ressourcen für das Projekt gestellt: Ein Team von zehn Personen aus verschiedenen Abteilungen beschäftigt sich damit. Für von Schöppenthau liegt der Grund für diesen Aufwand im Ertrag. Durch ihre Zertifizierungsmöglichkeit kann die EASA finanziell vom Erfolg der eMCO und der SiPO profitieren. Zudem fördert die EASA einen europäischen Flugzeughersteller, indem er sich mit seinem neuen operationellen Konzept rasch und als Erster im Markt positionieren kann. Kommerzielle Interessen bestimmen die Richtung, so von Schöppenthau.
Bei der ECA bleiben Fragen hinsichtlich des medizinischen Risikos wie auch der (Cyber-)Security offen. Die ALPA, mit über 67 000 US-amerikanischen und kanadischen Mitgliedern die grösste Arbeitnehmervertretung von Piloten weltweit, sieht die Konzepte aus Europa ebenfalls kritisch: In ihrem Positionspapier «The Dangers of Single-Pilot Operations» bezeichnet sie Letztere als ein Risiko, bei dem es sich nicht lohnt, darauf einzugehen («a risk not worth taking»). Dabei beruft sie sich auf eine NASA-Studie aus dem Jahr 2017, die unter anderem Experimente im Flugsimulator beinhaltete und die Sicherheitsgefährdung belegt. Interessierte können sich die spannenden Resultate auf der Webseite der ALPA im Media-Bereich unter White Papers ansehen (www.alpa.org).

Company Duty Regulations
Den alten Hasen noch als FTL bekannt, reden wir im neuen GAV von Company Duty Regulations, kurz CDR. Philip von Schöppenthau bezeichnet diese als ein schon immer sehr relevantes Thema bei der ECA und stellt aktuelle Entwicklungen vor. Wie bekannt ist, stellen die sogenannten EASA Flight Time Limitations Grenzen dar, die nicht überschritten werden dürfen. Zum Schutz der Arbeitnehmer und vor allem um gegen Müdigkeit, Fatigue oder andere etwaige physische Symptome bei Besatzungen vorzugehen, haben Fluggesellschaften die Möglichkeit, zusätzliche, interne Regeln aufzustellen. Diese können nur restriktiver als die übergeordneten EASA-Limiten sein. Dennoch berichtet von Schöppenthau, dass zahlreiche europäische Airlines, insbesondere aus dem Low-cost-Segment, nicht auf diese Option zurückgreifen und stattdessen ihre Crewmember gemäss den EASA-Rahmenbedingungen einsetzen.

Die innere Uhr und ein langer Flugeinsatz
Zu diesem Thema fallen mir spontan zwei persönliche Erlebnisse ein. Für das erste gehen wir zurück in den Sommer 2018. Eine Flugplanperiode, in der viel geflogen wurde (in welcher nicht?) und Verspätungen zum Alltag gehörten. Auf der CSeries-Flotte wurden aus Zürich und Genf lange, tägliche Einsätze geplant. So auch am Tag meiner Erinnerung, als ich mit meiner Crew für vier Flüge nach Bilbao und Berlin geplant war. Die FTL waren planerisch bereits so gut wie ausgereizt. Wir konnten unser Flugzeug um die Mittagszeit mit einstündiger Verspätung aus Budapest übernehmen. Bei der Übergabe informierte die Besatzung des Inbound-Flugs über technische Probleme mit zwei der drei Bordtoiletten. Da unsere Flüge erwartungsgemäss gut gebucht waren, entschieden wir uns, das Flugzeug nur mit mindestens zwei funktionierenden Toiletten zu akzeptieren. Die Maintenance konnte dies so umsetzen, aber die Verspätung akkumulierte sich. Zu unserem ersten Flug an diesem Start verliessen wir den Standplatz mit einer Stunde und zwölf Minuten Verspätung. Während des Flugs nach Bilbao trat das Problem an den Toiletten erneut auf, sodass wir mit nur einem funktionierenden WC für den Rückflug planen mussten. Aufgrund der etwas niedrigeren Passagierzahl hielten wir das für zumutbar. Nach einem geflogenen Goaround in Bilbao aufgrund eines Scherwinds konnten wir die nordspanische Stadt nach einem einstündigen Turnaround wieder verlassen. Unsere Verspätung summierte sich bereits auf beinahe zwei Stunden. Für uns erschien es klar, dass eine Besatzung aus dem Bereitschaftsdienst für unseren Berlin-Turnaround aufgeboten werden würde. Umso verwunderlicher erschien die Nachricht, die uns SWISS per ACARS auf dem Rückflug zusendete. Aufgrund unseres technischen Problems mit den Bordtoiletten hätte man für den Flug nach Berlin ein Ersatzflugzeug parat gestellt. Schnell fanden wir heraus, dass das Flugzeug an dem Tag noch nicht geflogen war und demnach noch einige zusätzliche Checks vonnöten wären, die den Turnaround nicht beschleunigen würden. Kurz sinnierte ich darüber, wieso man uns dieses Flugzeug nicht bereits für den Flug nach Bilbao zur Verfügung gestellt hatte, warf den Gedanken aber schnell wieder beiseite. Ein Blick auf die FTL-Funktion der AEROPERS-App verriet mir: Selbst ein zügiger Turnaround mit Flugzeugwechsel würde uns die SWISS-FTL verletzen lassen. Der Captain nahm nun also seine Aufgabe wahr, uns um unser Einverständnis zu fragen, diesen Turn-around unter EASA-Limite noch durchzuführen. Dynamisch und motiviert entschied sich die Besatzung dazu, diese Extrameile für das Aufrechterhalten der Operation zu gehen. Den Push-back nach Berlin machten wir um 19.30 Uhr Ortszeit. Bereits vor achteinhalb Stunden waren wir im OPC zum Briefing mit der Kabinenbesatzung zusammengekommen. Auf dem ereignislosen Flug nach Berlin, auf dem wir es tatsächlich schafften, etwas Nahrung aufzunehmen, was bis dahin aufgrund der operationellen Erfordernisse unmöglich war, bahnte sich die nächste Hürde an. Der Tegeler Flughafen konnte kein Ground Handling zur geplanten, verspäteten Zeit zur Verfügung stellen. Der Grund: Personalknappheit. Die allmähliche Frustration in der Besatzung lässt sich ausmalen. Ganz zu schweigen von den Berliner Passagieren, die einen Anschluss auf Langstreckenziele am Abend in Zürich planten. Letztendlich erreichten wir unser Gate in Zürich um 22.58 Uhr. Die erneute Prüfung mithilfe der AEROPERS-App bestätigte unsere Annahme: Wir hatten die EASA-Limite um 12 Minuten überschritten.
Diese persönliche Erfahrung zeigte mir einmal mehr, wie schnell Differenzen zwischen einer legalen Planung und der tatsächlich absolvierten Flight Duty Period durch operationelle Vorkommnisse – seien sie technischer Herkunft, mitarbeiter- oder passagierbezogen – entstehen.

Crews akzeptieren bisher Unvorstellbares
Weiter soll kurz auf die Ausnahmeregelung, während der Corona-Pandemie Layover auf EASA-Limite zu planen und die SWISS-FTL auszusetzen, eingegangen werden. In seinen Gedanken zum Jahresabschluss 2021 resümierte der Head of Flight Operations der SWISS ein operationell und kommerziell anspruchsvolles Jahr, das «emotional belastend und gleichzeitig auch erfolgreich» gewesen sei. Heute, nachdem die Beschränkungen durch die Pandemie weitestgehend aufgehoben worden sind, die Nachfrage nach Flügen gestiegen und das weltweite Reisen wieder möglich ist, wissen wir: SWISS-Besatzungen haben in dieser Zeit Aussergewöhnliches geleistet. Um den besonderen Umständen Rechnung zu tragen, wurde akzeptiert, Layover zunächst im Flugzeug zu verbringen oder auf der Langstrecke Turnarounds ohne Layover zu fliegen. Das Flugzeug wurde in einigen Fällen über vierzig Stunden nicht verlassen. Sobald es möglich war, wieder einzureisen, waren stundenlange, zähe Prozesse zu ertragen, nur um die kurze Zeit bis zum Rückflug in Hotelzimmern isoliert zu verbringen. Das Beispiel Shanghai verdeutlicht die Ambivalenz dieser Erlebnisse. Den zähen Einreiseprozess mit strengen Formalitäten, Irrfahrten auf dem Vorfeld des Flughafens und schmerzhaften PCR-Tests mussten Besatzungen einige Male über sich ergehen lassen, um nach meist mehr als vier Stunden nach der Ankunft am Gate ein Hotel zu erreichen, das einem Geisterschloss glich. Die Crews rapportieren pausenlos, um Verbesserungen zu erreichen: Kaltes Wasser, keine ausreichende Verpflegung und verstopfte WCs waren nur einige der Probleme. Die Rapporte wurden sowohl von der SWISS als auch von der AEROPERS ernst genommen. Die Problematik bestand darin, in der demokratischen Diktatur Chinas Gehör zu finden. Mühsam und nur schrittweise wurden positive Trends verzeichnet. Meinen persönlichen Tiefpunkt erreichte ich bei einer Ankunft im Hotel in Shanghai, als uns nach über vierstündiger Einreise acht Stunden und zwei Minuten Ruhezeit auf dem Zimmer vor dem Rückflug verblieben. Diese Zeit sei sorgsam eingeteilt: Essen, Schlafen, körperliche Hygiene – alles minutiös geplant. Mehrere Male haben Besatzungen diesen grenzwertigen Layover auf sich genommen, um der SWISS die wertvolle und wichtige Operation zu retten und den Fortbestand der Unternehmung zu gewährleisten. Der Zeitpunkt der «Dankeschön-Prämie» erfolgte für mich persönlich zu spät.

Die EASA ignoriert mehrere wissenschaftliche Studien
Doch zurück zu den FTL. Die oben genannten Erfahrungen sollen die Relevanz des Themas auch in der SWISS, bei der Crews mit restriktiveren Vorschriften als die der EASA eingesetzt werden, hervorheben. Philip von Schöppenthau betont die enormen Anstrengungen der ECA und in einigen Fällen doch auch die Machtlosigkeit gegenüber der EASA, Verbesserungen im Bereich der Flight Time Limitations zu erreichen. Seit März 2019 existiert eine wissenschaftliche Studie, welche die Gefahrenfelder von Fatigue beleuchtet und bereits im November 2018 abgeschlossen wurde. Letztere war bereits 2013 vom europäischen Gesetzgeber in Auftrag gegeben worden, um Nachweise über die Auswirkungen von sechs Schlüsselproblemen bei Ermüdungserscheinungen zu erhalten, bei denen die bestehenden EASA-Regeln als möglicherweise unzureichend erachtet wurden. Europäische Piloten und die ECA hatten zuvor wiederholend starke Bedenken in diesem Feld geäussert und die Wirksamkeit der geltenden EASA-Limite infrage gestellt. Die Studie belegt, dass zum einen Nachtflüge unabhängig von ihrer Dauer zu einer exzessiven Müdigkeit führen. Zum anderen werden als zweite Quelle von Müdigkeit die sogenannten «disruptive schedules», also Dienstpläne, welche die innere Uhr aus dem Gleichgewicht bringen, genannt. Dies können Einsätze sein, die in den sehr frühen Morgenstunden beginnen, oder solche, die spätabends enden. «Replacing the hours your body needs to be asleep with the task of piloting an aeroplane carries a very high fatigue risk», erläuterte der ehemalige ECA-Präsident Captain John Horne bereits vor drei Jahren. Er macht auf die Bedeutung der Erkenntnisse des «Reports on Effectiveness of FTL (EASA, 2019)» aufmerksam und forderte bereits vor drei Jahren, die sofortige Überprüfung der europäischen FTL zu veranlassen. Interessant ist nicht nur, dass das Studienergebnis frühere wissenschaftliche Untersuchungen, die strengere FTL-Regeln empfohlen haben, unterstützt. Schon in diesen wurden Massnahmen wie die Begrenzung der Nachtflüge auf zehn Stunden ohne erweiterten Crewverband oder die Limitierung aufeinanderfolgender störender (disruptive) Flugpläne gefordert. Der Bericht spiegelt auch Umfragen unter europäischen Piloten wider. So nennt die London School of Economics (LSE) schon 2016 die Tatsache, dass die Hälfte aller europäischen Airline-Piloten von Müdigkeit berichtet, welche die Sicherheit der Passagiere gefährden könnte. Die Untersuchung der LSE zur Sicherheitskultur bei Fluggesellschaften zeigte, dass mit 60 Prozent mehr als die Hälfte aller europäischer Piloten von Müdigkeit betroffen ist. Hingegen denken nur 20 Prozent, dass ihre Situation vom Arbeitgeber ernst genommen wird. «Die Studie bestätigt, dass es falsch war, Piloten und Kabinenpersonal drei Jahre lang unter Bedingungen fliegen zu lassen, die einen starken und empirisch nachgewiesenen Einfluss auf die Wachsamkeit der Besatzungen haben», sagt Philip von Schöppenthau nach Veröffentlichung der Arbeit vor drei Jahren. «Die Ergebnisse dieser Studie sind hoffentlich ein Weckruf für die europäischen und nationalen Luftfahrtbehörden, dass die menschliche innere Uhr nicht zu besiegen ist. Die potenziellen Sicherheitsauswirkungen von stark schlafstörenden Nachtflügen, frühen Starts und späten Landungen sind nun klar demonstriert. Wir zählen darauf, dass die Europäische Kommission und die Agentur ihre Rolle als Europas Sicherheitsregulierungsbehörden ernst nehmen und unverzüglich auf die eindeutigen Ergebnisse dieser Studie reagieren wird.» Heute steht von Schöppenthau nach wie vor hinter dieser Empfehlung. Er berichtet im Spezialisten-Seminar von der Ignoranz, die bei der EASA nach Veröffentlichung der wissenschaftlichen Belege für Müdigkeit in den Cockpits an den Tag gelegt wurde. Zwar sei ein gezieltes Fatigue Risk Management (FRM) für Airlines mittlerweile möglich und empfohlen, allerdings keineswegs verpflichtend. Bis heute fehlen konkrete Umsetzungen aus den Erkenntnissen und Empfehlungen der Studie. Diese lassen sich unter www.eurocockpit.be mit einer Suche nach «Report Effectiveness of Flight Time Limitations» abrufen. Erst im Herbst 2022, nach erneutem Druck der ECA, hat die EASA zum ersten Mal angekündigt, dass man sich der Thematik nunmehr ernsthaft annehmen würde. Allerdings, so von Schöppenthau, kann es durchaus sein, dass die Behörde wieder klein beigibt, sobald sich die Airlines gegen eine Verschärfung der Regeln aussprechen.

Tiefe Ticketpreise dank niedriger Personalkosten
Mehrere Umfragen ergeben, dass für Passagiere bei der Flugbuchung hauptsächlich der Ticketpreis das Auswahlkriterium für eine bestimmte Verbindung ist. So zeigt die Verbraucherumfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Jahr 2018, dass 42 Prozent der Befragten den Preis für das Flugticket als sehr wichtig und 46 Prozent dieses als wichtig einstufen. Insbesondere besitzen die Abflugzeit und das Serviceangebot eine untergeordnete Rolle. Nicht weniger überraschend ist die Tatsache, dass der Ruf der Fluggesellschaft in der Umfrage nur von 23 Prozent der Reisenden als sehr wichtig bewertet wird. Benedikt Escher, Head of Network Management der SWISS, hat im Interview mit der AEROPERS-«Rundschau» 2021 die Gefahr, die von Low-cost Carriern ausgeht, eindeutig formuliert: «Sie sind wie Geier, die um die etablierten Netzwerk-Airlines herumkreisen, nur um sich im günstigsten Moment das ein oder andere Geschäft abzugreifen» («Rundschau» 4/2021). Nun ist ein schlechter Ruf einer Airline nur bedingt direkt damit zu erklären, dass sie im Low-cost-Sektor tätig ist. Einige Passagiere mögen aus Kundensicht mit Easyjet oder Ryanair durchaus zufrieden sein. Sie bezahlen für die grundsätzliche Dienstleistung – den Flug von A nach B. Dabei können sie aus einer Bandbreite an Zusatzleistungen wie Gepäckaufgabe, Sitzplatzreservierungen oder Verpflegung an Bord auswählen. Wer dies nicht benötigt, spart. Der Fokus soll an dieser Stelle vielmehr dem gelten, was Passagieren verborgen bleibt. Die Arbeitsbedingungen von Cockpit- und Kabinenpersonal sind Kundinnen und Kunden nicht bekannt. Bereits im Jahr 2015 warnt das deutsche Nachrichtenportal «n-tv», dass Sozialdumping die Flugsicherheit europäischer Airlines bedrohe. Es berichtete von Piloten, die einem unfairen, internen Wettbewerb ausgesetzt sind und durch diesen grossen Druck sicherheitsbeeinträchtigende Entscheidungen, zum Beispiel in der Entscheidung für zusätzliche Treibstoffmengen, fällen müssten. Diese perfide Praxis, die vor allem bei Ryanair zum Einsatz kommt, ist längst in der Öffentlichkeit bekannt. Philip von Schöppenthau geht daher in seinem Vortrag zuletzt auf die aktuellen Entwicklungen der atypischen Anstellungsverhältnisse in Europas Luftfahrt ein.

Der Traum vom Fliegen – zu jedem Preis
Ganz konkret wird am Beispiel von Wizz Air demonstriert, welchen Gefahren die Angestellten der ungarischen Billigfluggesellschaft ausgesetzt sind. Mit über 150 Flugzeugen und rund 40 Basen gilt die Airline als drittgrösste Low-cost Airline Europas und ist zugleich die grösste Fluggesellschaft Ungarns. Unter anderem mit ihrem neuen AOC in Malta bedient sie mehr als 190 Destinationen in 49 Ländern. Auf ihrer Webseite verspricht Wizz Air neben einer jungen, effizienten Flotte vor allem ihre Nachhaltigkeit. Dank sehr gut trainierter Crews könne der Kunde zudem eine sichere Reise und einen einwandfreien Service erleben. Informationen über die Konditionen, zu denen die Angestellten tagtäglich in der Kabine und im Cockpit der Airbus-Flotte im Einsatz sind, sucht man vergebens. In den Stellenausschreibungen für angehendes Cockpitpersonal verspricht die Airline das permanente Wohlergehen ihrer Piloten, wettbewerbsfähige Gehälter und ein branchenführendes Training. Abgerundet wird dies Wizz Air zufolge mit einem unbefristeten und sicheren Vertrag, flexiblen Dienstplänen und einer ausgezeichneten Work-Life-Balance. Wo also liegt der Haken? 
Philip von Schöppenthau berichtet von den gewerkschaftslosen Crewmembern, die in ihrer Anstellung vergebens auf die Unterstützung durch einen Verband zählen dürfen. Bei ihnen ist es keine Ausnahme, Dienste zu absolvieren, die die EASA-Limite tangieren oder überschreiten. Doch sie sind in diesen Situationen auf sich selbst gestellt. Der ECA-Generalsekretär bezeichnet Wizz Airs Safety-Kultur als eine toxische, in der Entscheidungen zugunsten von gesetzlichen Regeln (EASA) bestraft werden. Im Extremfall habe dies zu Entlassungen geführt, oder solche sind zumindest angedroht worden. Deshalb setzt sich die ECA seit mittlerweile zwei Jahren intensiv gegenüber der EASA dafür ein, dass die stark defiziente Corporate und Safety Culture der Airline in den Fokus der EASA rückt und unabhängig auditiert wird (Anm. der Redaktion: Die EASA ist seit August 2020 als Aufsichtsbehörde für Wizz Air zuständig). Wizz Air-CEO József Váradi hat bereits vor Jahren in einer Stellungnahme zugegeben, Gewerkschaften in seiner Fluggesellschaft absichtlich nicht zuzulassen. Dabei sei die Abneigung gegen eine Arbeitnehmervertretung so stark, dass er eher den Flugbetrieb von Ungarn in ein anderes Land verlagern würde, als eine gewerkschaftliche Abdeckung zu genehmigen. Der Hintergrund dieser Aussage ist ein klares Zeichen für die hierarchische, kompromisslose Führung der osteuropäischen Airline, die sich in ihrem Geschäftsmodell nicht in die Karten schauen lassen will – und erst recht kein Mitspielen erlaubt. Begleitend zu Wizz Airs jüngsten Expansionsplänen mit festen Basen in Norwegen, Italien, Deutschland und dem Vereinigten Königreich könnte der Beitritt zu Berufspiloten-Verbänden noch nicht ganz vom Tisch sein. In diesen Ländern gibt es seit Jahrzehnten bestehende Arbeitnehmervertretungen für Cockpit- und Kabinenpersonal. So hat die ehemalige Ministerpräsidentin Norwegens, Erna Solberg, sich bereits vor der Betriebsaufnahme von Wizz Air in Norwegen für einen Boykott der Airline eingesetzt, da diese den Mitarbeitern verbiete, sich zu organisieren: «It is unacceptable for me to travel with airlines that do not have proper and orderly work-
ing conditions», so Solberg. Die Antwort des Chief People Officer der Wizz Air, Johan Eidhagen, verwies darauf, dass die Airline es ihren Angestellten nicht verbiete, Gewerkschaften beizutreten, wenn sie dies wollten. Zudem beachte Wizz Air geltende Gesetze und Vorschriften in allen Ländern, in denen sie operiert. Dabei versäumte die Fluggesellschaft zu erwähnen, dass ein grosser Teil ihrer Besatzungen nicht über Kollektivverträge, sondern individuell und teilweise über eine Schein-Selbständigkeit angestellt sei, die einen Beitritt verunmöglicht. Unerwähnt bleibt zudem, dass jegliches gewerkschaftliches Engagement zu erheblichen Nachteilen führen kann, bis hin zum Jobverlust.

Soziale Aspekte auf dem Prüfstand
Im Frühjahr 2022 veröffentlichte die ECA eine Umfrage über das «Social Rating» europäischer Piloten, die zwischen Juli und September 2021 durchgeführt wurde. Die anonyme Befragung von knapp 6000 Piloten kategorisierte die sozialen Aspekte und Arbeitsbedingungen in 136 verschiedenen Airlines. So konnte ein Ranking erstellt werden, das Airlines in die Kategorien Social Excellence, Social Partner, Social Snail (dt. Schnecke, Faulpelz), Social Misfit und Social Junk (dt. Schrott) einteilte. Während die SWISS und andere Fluggesellschaften der Lufthansa Group mit Social Indexes von über 85 bereits in die höchste Kategorie Social Excellence fallen, gewinnt Air France mit einem Social Index von 98. Auf dem dritten Platz befindet sich der Condor-Flugdienst.
Die Kategorie der sozialen Exzellenz beschreibt einen Umgang der Airline gegenüber ihren Piloten wie zu ihren eigenen Familienmitgliedern. Das Cockpitpersonal schätzt den Umgang, ist stolz, so behandelt zu werden, und bereit, für lange Zeit Teil dieses Unternehmens zu bleiben. Wizz Air hingegen schafft es mit einem Social Index von 33 gerade so in die Kategorie Social Misfit. Diese beschreibt Piloten, die keinerlei Anerkennung oder Unterstützung seitens ihres Arbeitgebers spüren und sich mit dem Unternehmen nicht identifizieren können. Den letzten Platz nimmt Olympus Airways mit einem Social Index von 8 in der Kategorie Social Junk ein. Dort erfahren Piloten miserable Anstellungsverhältnisse, eine nicht existente Work-Life-Balance und schlechte Beziehungen zum Arbeitgeber. Die Arbeitnehmer in der Kategorie sehen sich meist unmittelbar nach Alternativen um. 
Philip von Schöppenthau konnte den AEROPERS-Spezialisten nicht nur die Arbeit der ECA näherbringen, sondern auch die Relevanz der ernst zu nehmenden Themenbereiche aufzeigen, mit denen sich die ECA aktuell beschäftigt und wo sie auf EU-Ebene Piloteninteressen verteidigt. Einmal mehr ist bewusst geworden, wie sehr es sich lohnt, für eine Sozialpartnerschaft mit dem Arbeitgeber zu kämpfen und in einem Piloten-Verband organisiert zu sein, sowohl auf nationaler also auch auf europäischer Ebene. Nur so können faire Arbeitsbedingungen entstehen, Sicherheitsstandards gelten und gesetzliche Bestimmungen seriös überwacht werden.